Verzweifelte Jahre
haben. Ich hatte vom ersten Moment an eigentlich überhaupt, außer den schlimmsten Befürchtungen, was er mit mir anstellen konnte, keinerlei Angst. Im Gegenteil, ich dachte mir, der bringt dich sowieso um, also kannst du deine letzten paar Stunden, Minuten oder was immer noch gezielt nützen, um wenigstens zu versuchen, irgendetwas draus zu machen, zu fliehen oder auf den einzureden oder so.
Haben Sie auf ihn eingeredet? Na ja, ich habe ihm gesagt, dass das nichts wird und dass unrecht Gut nie gedeihen wird und dass ihn die Polizei schon schnappen wird und so. Eine Welle von unfassbarer Wut erfasst mich. Ich will ihn umbringen, schreit was in mir. Ich will ihn leiden lassen, wie er mein Kind hat leiden lassen. Der hat schon gewusst, warum er sich vor den Zug haut, dieses elende Schwein. »Nicht, Mama«, sagt Sabina, die genau mitkriegt, was in mir vorgeht. »Nicht.« Natascha erzählt: Das erste halbe Jahr war ich nur in dem Keller. Die ersten zwei Jahre habe ich keine Nachrichten sehen dürfen, er hat gemeint, dass vielleicht auch etwas über mich gebracht würde, was mich aufregen könnte. Zwei Jahre, denke ich. Sabina schaut mich an. »Die ersten zwei Jahre müssen am schlimmsten gewesen sein, hast du immer gesagt .« Wie haben Sie es gelernt in diesen acht Jahren mit der Einsamkeit umzugehen ?, fragt der Interviewer. Ja, also, ich war nicht einsam. In meinem Herzen war meine Familie. Und glückliche Erinnerungen waren immer bei mir. Und ich habe mir eines Tages geschworen, dass ich älter werde, stärker und kräftiger, um mich eines Tages befreien zu können. Ich hab sozusagen mit meinem späteren Ich einen Pakt geschlossen. Dass es kommen würde und das kleine zwölfjährige Mädchen befreien würde.
*
Das Interview war ein Straßenfeger. Ganz Österreich hat es gesehen. In den nächsten Tagen wird es auf anderen Sendern in anderen Ländern ausgestrahlt. Und am meisten redet man über den Pakt.
Mit zwölf hat sie einen Pakt mit ihrem künftigen Ich abgeschlossen. Mit zwölf. In einem Alter, in dem Mädchen mit Puppen spielen, sich den ersten Ken zur Barbie wünschen. In dem sie anfangen, die Buben nicht mehr ganz so blöd zu finden. In diesem Alter saß mein Kind in einem Verlies und hielt sich mit einem Schwur am Leben. Wir reden nicht viel über das Interview. Es ist vorbei. Die Presse ist bedient, die Sensationslust befriedigt. Die wirklich Mitfühlenden unter den Mitmenschen können aufatmen. Ein Kapitel in der österreichischen Kriminalgeschichte hat ihr Happy End. Ein neues beginnt für uns.
16
Unser Alltag passt nicht mehr zu den Umständen. In dem Fernsehinterview hat Natascha eine Stärke bewiesen, die sogar die Psychologen beeindruckt. Sie hat über den schwächeren Teil in sich gesiegt. Und über ihren Entführer. Sie wird über alle siegen. Mein Gefühl sagt mir, dass dem Beraterstab langsam mulmig wird. Natürlich braucht Natascha weiterhin ärztliche Hilfe. So wie unter den TV-Scheinwerfern ist sie nicht immer. Aber die strenge Kuratel ist mittlerweile fehl am Platz. Wir müssen Erlaubnis einholen, um in einen anderen Raum gehen zu dürfen, wenn sie isst. Wir müssen fragen, zu welcher Tageszeit ich sie besuchen darf. Es gibt eine Besprechung in der Kanzlei von Lansky & Ganzger. Eine familiäre Zusammenkunft, um zu beschließen, was jetzt so passieren soll. Es muss doch eine andere Möglichkeit geben, bei der Natascha dieselbe Betreuung hat wie jetzt, wo es aber nicht zugeht wie in einem Gefängnis mit niedriger Sicherheitsstufe. Die Anwälte sind höflich, aber es scheint mir, sie lassen uns nicht im Unklaren, dass wir der lästigste Eintrag in ihrem Kalender sind. Natascha sei achtzehn, belehrt uns Herr Lansky. Sie könne ihre Entscheidungen allein treffen. Aha, denke ich, betrifft das auch die Verwaltung ihres Geldes? Weiß sie, wie viel das ORF-Interview eingebracht hat, Natascha stehen Einnahmen aus den Verkäufen der Auslandsrechte zu? Hat sie Zugriff auf die Summe? Wurde nicht unlängst erst erfreut bekannt gegeben, dass Nataschas Zukunft abgesichert sei? Ich sage nichts von alldem laut. Ich will ihr nur aus dem Käfig im Allgemeinen Krankenhaus heraushelfen. Herr Lansky mustert mich ausdruckslos. Jetzt kommt gleich wieder ein Schauen-Sie-Frau-Sirny, denke ich. Schauen Sie, Frau Sirny, sagt er. Sein Bub sei mit achtzehn auch allein mit dem Taxi gefahren. Sie müssen loslassen, sagt er. Die Zusammenkünfte sollten ab jetzt jede Woche stattfinden. Ich verlange keinen weiteren
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