Verzweifelte Jahre
Termin. Der Herr Professor lässt sich am wenigsten irritieren. Im Gegenteil, er sieht immer mehr danach aus, als hätte er Natascha geboren. Sie ist sein Geschöpf, er hat auf sie aufzupassen. Dass sie ihn immer öfter fragt, ob es denn noch notwendig sei, hier in stationärer Behandlung zu bleiben, nimmt er als den langweiligen Teil seiner Arbeit zur Kenntnis. Er antwortet in schönen Sätzen, geändert wird nichts. Ich kenne Natascha, sie mag schöne Sätze, aber sie wird nicht lockerlassen. Und prompt. Sie erzählt es mir fast nebenbei. Ich gehe jetzt aus dem Spital, habe sie Max Friedrich ins Gesicht gesagt. Und sie dürfte es ihm so gesagt haben, dass er es auch glauben hat müssen. Seine Erwiderung fährt mir durch Mark und Bein. Wenn du jetzt gehst, sagte der Herr Professor, dann brauchst du nie wieder zu mir kommen. Ich versuche mein Entsetzen vor Natascha zu verbergen. Wenn du jetzt gehst, dann brauchst du nie wieder zu mir kommen. Wenn du fliehst, bring ich mich um, hat ihr der Verbrecher immer gedroht. Da ist nicht viel dazwischen, denke ich. Nur, dass der eine Psychiater ist und der andere Psychopath war. Was ist das für eine Therapie ?, denke ich. Ich bin Laie, aber als Mutter erscheint mir so eine Drohung skandalös. Am 29 . September ist es trotzdem so weit. Knapp fünf Wochen nach ihrer Rückkehr in die Freiheit wird Nataschas Abschirmung aufgehoben. Sie darf die Station verlassen und wird ins Schwesternheim des Allgemeinen Krankenhauses einquartiert. Es ist eine Übergangslösung. In solchen Fünfunddreißig-Quadratmeter-Garçonnièren leben Krankenschwestern, junge Ärzte, Pfleger. Es ist alles da. Kochnische, Bad, Toilette, Dusche, funktionell, aber immerhin, ein eigenes Reich. »Schön, dass du da bist, Mama«, sagt Natascha und öffnet mir die Tür wie zu einer Suite. Ich ziehe die Stiefel aus, um keinen Dreck zu machen, und stelle sie zum Eingang. Wir setzen uns an den kleinen Tisch, sie spielt die Gastgeberin, wie immer. Viel gibt es nicht zu servieren. Die Auswahl ist einfach bei jemandem, der sehr bewusst drauf schaut, was er seinem Körper Gutes tun kann. »Saft oder Wasser ?« , fragt sie. Für eine Sekunde rieche ich Kaffee in meiner Einbildung. »Saft«, sage ich. Ich greife zu den Zigaretten in der Handtasche. Ich sehe Nataschas Blick und lasse es sein. »Danke«, sagt Natascha. »Kein Problem.« »Weißt du, seit ich mit Leuten zu tun habe, ist es nicht so leicht für mich. Teilweise finde ich das aufdringlich .« »Was denn?« Ich verstehe noch nicht genau, worauf sie hinauswill. »Die Menschen haben unterschiedliche Körpergerüche. Sie rauchen, sie parfümieren sich .« Sie stockt und denkt kurz nach. »Aber es macht mir nichts. Ich war immer schon ein sozialer Mensch, oder? Von Anfang an, ich hatte keine Schwierigkeiten im sozialen Umgang .« Das kann man so sagen, denke ich. Schon mit vier hat sie sich beim Heurigen unaufgefordert an einen Tisch mit fünfzehn Leuten gesetzt und die ganze Runde unterhalten. Manche haben das auch altklug genannt. Ich fand es immer gut, wie schnell sie sich an jede Umgebung anpassen konnte, wie wenig ängstlich sie war. Das hat ihr sicher auch bei dem Verbrecher geholfen. Mir fällt ein, wie sie unlängst über ihn gesprochen hat. Er hatte eine labile Persönlichkeit, hat sie ihn analysiert, ihm fehlte so etwas wie Selbstsicherheit, er hatte kein ordentliches Mitgefühl, er war ein irrsinniger Ignorant, ein furchtbarer Paranoiker. Sie hat mehr so vor sich hin geredet. Manchmal passiert das. Plötzlich erzählt sie was aus dem Leben, das ich nicht kenne. Er hat zwar die Wahrheit teilweise nicht vertragen, sagte sie, aber dann war er doch einsichtig, weil sie ihm das ruhig und sachlich vermitteln konnte, es war nicht als Beleidigung gemeint, sondern als Wahrheit. Ich finde, dass ich stärker war als er, fügte sie noch an. Dann war das Thema erledigt. Ich frage nie nach, wenn sie so unvermittelt in die Vergangenheit gleitet. Sie wird schon erzählen, wenn sie will, denke ich. »Ich habe dir ein paar neue Sachen mitgebracht«, sage ich stattdessen, »willst du sie probieren ?« Sie schlüpft nacheinander in die paar T-Shirts und Pullover, eine Jacke ist auch dabei. Es ist schon recht kühl, selbst für Herbst. Die Modeschau dauert einige Zeit. Ich schaue auf die Uhr. »Du, ich muss jetzt langsam aufbrechen«, sage ich. Ich stehe auf, nehme meine Handtasche, gehe zur Tür, will mir die Stiefel anziehen. Sie sind nicht da. Ich drehe mich zu Natascha um.
Weitere Kostenlose Bücher