Verzwickt chaotisch
Rübsam.
Bis zu unserem Haus – Leander hatte nun blendende Laune, während meine immer finsterer wurde – trällerte er pausenlos vor sich hin. Meistens lautete der Text: »Ich weiß etwas, was du nicht weißt …« Also ging es um Neuigkeiten aus der Sky-Patrol-Branche. Ich beherrschte mich bis zu den Hausaufgaben, dann platzte mir der Kragen.
»Nun sag es endlich!«
Leander rückte sein Stirntuch zurecht und setzte sich neben mich auf den Schreibtisch. Oh, er wusste genau, dass ich es nicht mochte, wenn er mir bei den Schulaufgaben über die Schulter sah und zu allem und jedem seinen Kommentar abgab. Trotzdem tat er es immer wieder.
»Serdan«, raunte er bedeutungsvoll und korrigierte mit der linken Hand eine falsch ausgerechnete Formel.
»Was ist mit Serdan?«
»Kein Anrecht mehr. Erloschen.« Leander faltete betont feierlich die Hände und verdrehte kurz die Augen. Er war also nicht der Meinung, dass dieser Schritt richtig gewesen war. Doch ich hatte es schon geahnt. Serdan wuchs in letzter Zeit unglaublich schnell, redete gar nichts mehr und gab sich kaum mehr mit mir ab. Wahrscheinlich war ich ihm zu kindisch geworden. Und mit meinem Aufsatz hatte ich das Wenige verdorben, was noch übrig geblieben war. Mich ließ das nicht kalt, denn vor den Ferien hatten Serdan und ich uns so gut miteinander unterhalten, wie ich mich noch nie mit einem Jungen unterhalten hatte. Unten, am Rhein. Ich musste oft daran denken. Und nun sagte er nicht einmal mehr Hallo zu mir. Er nickte lediglich, wenn wir uns begegneten.
Dabei waren wir jetzt auf einer Stufe. Wir hatten beide kein Sky Patrol mehr. Seppos Anrecht war ebenfalls erloschen – seit Längerem schon. Nur Billy blieb übrig.
»Warum hat Vitus mich allein gelassen?«, brach es plötzlich aus mir heraus. Ich trug diese Frage seit dem Tag am Abbruchhaus mit mir herum. Vitus war ein guter Wächter gewesen. Ein Spürer – einer der besten, wie Leander behauptete. Aber er war gegangen. Gut, mein Instinkt hatte mich davon abgehalten, aus dem Fenster zu hechten und mir den Hals zu brechen. Ich hatte rechtzeitig gesehen, dass der Balkon nicht mehr da war, auf dem ich hatte balancieren wollen. Insofern hatte Vitus recht gehabt. Ich konnte auf mich selbst aufpassen. Trotzdem fühlte ich mich manchmal ganz und gar nicht erwachsen.
»Das fragst du noch, Luzie?« Leander knuffte mich belustigt in die Seite. »Du hast ihn verarscht, den guten Vitus, und einen auf großes Mädchen gemacht. Hast dich von Seppo befummeln lassen und …«
»Ich hab mich nicht befummeln lassen!«, widersprach ich und versuchte, ihn vom Schreibtisch zu schieben. Erfolglos. »Und woher weißt du das überhaupt?«
»Also echt. Liebchen. Ich kann unsichtbar am Himmel schweben und habe sehr gute Augen. Schon vergessen? Hübsches Meerjungfrauenkostüm übrigens. Ich wäre dir beim Tanzen nicht auf deine Schwanzflosse getreten wie dein haariger Affe.«
»Du hast mich beobachtet?«
»Nur ab und zu«, gab Leander leutselig zu. »Während meiner Freiflüge. Und den Fastnachtsball wollte ich mir nicht entgehen lassen. Was ist eigentlich Twilight? Wer sind Bella und Edward?«
Ich wandte mich schnaufend ab und versuchte, mich wieder in die Mathehausaufgaben zu vertiefen. Doch Leander schien unser Thema zu gefallen.
»Vielleicht hat Vitus auch gemerkt, dass ich für dich zuständig sein sollte. Wollte. Müsste. Und ist deshalb gegangen. Hat mir den Vortritt gelassen. Vielleicht.«
Ich fuhr erschrocken hoch. Doch Leander war es ernst. Das war kein Scherz gewesen.
»Aber was ist denn dann mit mir? Brauche ich nun einen Wächter oder nicht? Passt jemand auf mich auf? Oder lasst ihr mich alleine? Ich versteh das alles nicht!«
Leander sah mich lange prüfend an. Diesmal blickte ich nicht weg. Er sollte mir gefälligst die Wahrheit sagen – eine Wahrheit, mit der ich leben konnte. Auf keinen Fall wollte ich, dass der Meister der Zeit wieder seine kalten Hände nach mir ausstrecken konnte wie bei dem Brand im Keller. Noch immer hatte ich den Geruch des Flusswassers in der Nase, wenn ich mich daran erinnerte oder nachts davon träumte. Ohne Leander und Vitus wäre ich dort unten erbärmlich gestorben.
»Was willst du denn, Luzie?«
»Ich will nicht alles allein machen und entscheiden und durchstehen müssen! Ich will nicht allein sein! Ihr geht im falschen Moment von den Menschen weg!«, sprach ich das aus, was ich in diesem Augenblick dachte, und bereute es im gleichen Moment. Denn vor ein paar Stunden
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