Verzwickt chaotisch
hatte ich exakt das Gegenteil behauptet. Aber es war zu spät.
Leander lächelte kurz, bevor er wieder so ernst wurde wie zuvor.
»Das bist du nicht, chérie. Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Und ich bleibe bei dir. Wo soll ich denn sonst hin?«
Ich sagte nichts mehr. Und konnte mich den ganzen Abend lang nicht entscheiden, ob Leanders Worte nun eine Drohung oder ein Versprechen gewesen waren.
Kosmischer Diebstahl
Eine halbe Woche später war mir endgültig klar geworden, dass die Jungs mit der Warnung, mit meiner Mutter sei nicht zu spaßen, einen goldenen Riecher gehabt hatten. Dabei wusste Mama nicht einmal, dass wir jahrelang zusammen Parkour gemacht hatten. Sie kannte nach wie vor nur die alte Version: Ihre Tochter Luzie war alleine über Dächer geklettert, würde es aber nie wieder tun. Doch die Nachricht mit der Klassenfahrt reichte völlig aus, um sie in ein überbesorgtes Muttertier zu verwandeln. Sie benahm sich, als hätte ich verkündet, auf Weltreise zu gehen.
Ich kam mir vor wie ein zerbrechliches Ei, auf das sie sich den ganzen Tag mit ihrem riesigen Gluckenhintern draufsetzen wollte, damit es ja nicht davonrollt. Ich bekam keine Luft mehr! Sofie war ebenfalls außer Rand und Band. Ihre Schwärmerei für Kemal hatte sie sich zwar abgeschminkt – zu alt, meinte sie. In Wirklichkeit hatte Kemal vermutlich gar nicht erst bemerkt, dass eine Sofie aus der Siebten in ihn verschossen war, und so wurde es für sie mühsam, in ihn verliebt zu sein. Aber sie war überzeugt, dass eine Klassenfahrt die beste Gelegenheit überhaupt war, andere Jungs kennenzulernen. Näher (!) kennenzulernen. Vielleicht würden die Jungs uns nachts sogar im Zimmer besuchen kommen, wenn Herr Rübsam und Frau Dangel schliefen (und Seppo und Kelly rumturtelten?).
Ich war nicht erpicht auf nächtliche Besuche in meinem Zimmer. Im Gegensatz zu Sofie wusste ich allzu gut, was das bedeutete. Ich hatte ununterbrochen einen Jungen – nun ja, zumindest so eine Art Junge – in meinem Zimmer. Und in erster Linie nervte es. Das Thema Zimmerbelegung verdrängte ich sowieso unentwegt. Am besten würde es sein, beschloss ich vage, ein Einzelzimmer zu nehmen. Alles andere würde nur Ärger bringen. Aber wie sollte ich das Sofie erklären?
Mama fand die Vorstellung, ich würde mit mehreren Mädchen ein Zimmer teilen – denn davon ging sie aus –, trotz ihrer Überbesorgnis »reizend«. Wahrscheinlich machte sie sich Hoffnungen, dass ich dadurch anfangen würde, mich zu schminken oder stundenlang an meinen Haaren rumzukämmen. Dabei war das einzig Mädchenhafte, was ich zwangsweise beibehalten hatte, die Angewohnheit, meine Beine zu rasieren – aber nur deshalb, weil sie nach dem ersten Rasieren (das beinahe in einem Blutbad geendet hatte) zu stoppeln anfingen und ich gezwungen war weiterzumachen. Und es war nicht leicht, Momente zu finden, in denen ich mich ungestört im Bad aufhalten konnte, ohne dass Leander um mich herumschwirrte, mich neugierig beobachtete oder in meinem Zimmer dummes Zeug anstellte.
Heute zum Beispiel hatte ich nach der Schule in meinem Rucksack Herrn Rübsams Mundorgel gefunden, ein kleines, zerfleddertes Liederbuch, in dem er all die Songs fand, mit denen er uns vor Weihnachten und der Zeugnisausgabe und Schulausflügen quälte. Er wurde dabei nicht müde, davon zu schwärmen, dass er diese Lieder selbst als Junge gesungen hatte, wenn in der Schule »etwas Besonderes« war. Zum Beispiel religiöse Wochenenden, an denen er alljährlich teilgenommen hatte. Ich wunderte mich, dass er die Lieder nicht besser singen konnte, wenn er sie doch in- und auswendig kannte. Was Leander nun mit der Mundorgel von Herrn Rübsam wollte, war mir ein Rätsel. Falls Leander vermeiden wollte, dass Herr Rübsam auf der Klassenfahrt daraus sang, hatte er sich geschnitten. Herr Rübsam kannte die Lieder so oder so. Er würde sie uns auch ohne das kleine rote Heftchen aufzwingen. Da ich aber keine Lust auf eine weitere ergebnislose Diskussion hatte, nahm ich mir vor, Herrn Rübsam das Büchlein am nächsten Tag wieder in seine Tasche zu schmuggeln. Wenn Leander das mit einem Aufsatz gelungen war, sollte es auch für mich keine unlösbare Aufgabe sein.
Den halben Nachmittag verbrachte Leander damit, meinen Computer zu blockieren, auf YouTube irgendwelche uralten Songs zu suchen und anzuhören (dankenswerterweise mit dem Kopfhörer) und sie unter meinen Favoriten abzuspeichern. Als Mogwai unruhig wurde, schickte ich die beiden
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