Verzwickt chaotisch
machte sich bemerkbar. Ich konnte die Gelegenheit wenigstens nutzen, um zu pinkeln. Und danach sollte Leander von mir aus bis in alle Ewigkeit unter dem Busch sitzen bleiben. Ich würde zurück zum Bus gehen.
»Dreh dich weg«, befahl ich ihm, zog die Hosen runter und ging in die Hocke. Wieder so eine Ungerechtigkeit. Für Jungs war es tausendmal einfacher, im Freien zu pinkeln. Aber wir Mädchen …
»Luzie … Luzie!?«
Oh Gott. Das war Seppo. Und zwar viel zu nah … Hastig richtete ich mich auf und zog im gleichen Moment die Hose hoch, doch es war schon zu spät.
»Ich hab nix gesehen!«, rief er schnell, aber das konnte er seiner Großmutter erzählen. Er log.
»Luzie, ich dachte, dir ist schlecht … und du – du …?« Er deutete fragend auf meine Finger, die umständlich meinen Gürtel schlossen. »Du musstest nur aufs Klo? Wir machen uns alle Sorgen um dich!«
»Schwache Blase«, brummelte ich entschuldigend. Schwache Blase. Was für ein Unsinn! Ich konnte stundenlang einhalten, wenn es sein musste.
»Na, dann komm. Ich erzähl es schon niemandem weiter. Also, dass ich …« Seppo brach verlegen ab. |a, dass du mich beim Pinkeln gesehen hast, führte ich seinen Satz in Gedanken zu Ende. Außerdem glaubte ich ihm nicht. Kelly würde er es bestimmt erzählen. Und sie fand es sicher »cute«. Süß. Alles an uns »Kindern« fand sie cute. Ätzend.
Ich musste das Spiel mit der schwachen Blase weitertreiben, bis Leander Entwarnung gab. Insgesamt vier Mal. Weigern konnte ich mich nicht, da Leander drohte, das Steuer zu übernehmen. Der Busfahrer hasste mich. Die anderen kicherten hinter meinem Rücken. Seppo und Kelly tuschelten. (Ich redete mir ein, dass ich gut versteckt im Gebüsch gesessen hatte und mein Pulli so lang war, dass mein blanker Hintern sowieso verdeckt gewesen war. Garantiert.) Frau Dangels Lippen waren dünn wie ein Strich. Herrn Rübsams Stirn glänzte feucht vor lauter Stress.
Nur Leander wirkte stolz und zufrieden. In seinen Augen hatte er uns das Leben gerettet. Dabei fühlte ich mich mehr tot als lebendig – und es war alles erst der Anfang. Herr Rübsam hatte eben verkündet, dass wir nur noch wenige Kilometer vor uns hatten. Und damit wurde ich bald vor das nächste Problem gestellt: die Zimmeraufteilung. Es nahm einfach kein Ende.
Doch noch saßen wir im Bus und der Alkoholpegel des Busfahrers lag endlich wieder bei null. Ich hatte ein paar Minuten nur für mich. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an Leanders warme Schulter und döste sofort ein.
Kofferkontrollen
»Oh nein. Nein«, murmelte Billy und kratzte sich ausführlich in seinem bulligen Nacken. Er hatte sichtlich zugenommen, seitdem wir kein Parkour mehr machten.
»Nein«, sagte auch Seppo. Es klang trostlos.
Serdan kniff die Augenbrauen zusammen und hustete kurz. In seiner Gebärdensprache war das ebenfalls ein fassungsloses Nein.
Ich sparte mir einen giftigen Kommentar, verschränkte stattdessen nur die Arme und schaute die Jungs herausfordernd an. Sie blickten betreten an mir vorbei.
Wir waren in einem Eins-a-Parkour-Revier gelandet. Das hier war der Traum eines jeden Traceurs. Ruinengemäuer, wie geschaffen zum Balancieren. Ein umschlossener Burghof. Eine schmale Brücke. Astreine Höhenunterschiede. Ein Schwimmbad mit allerhand Bänken und Geländern. Es war das Paradies. Ich sah binnen Sekunden etliche Runs vor meinem geistigen Auge, die man hier einstudieren könnte.
Nein. Ich konnte meine Klappe nicht mehr halten. Unmöglich. »Tja. Seppo musste mich ja unbedingt bei meinen Eltern verpetzen«, bemerkte ich schnippisch.
»Ja«, knurrte Billy. »Und du«, er stierte Serdan an, dessen Augenbrauen nun eine durchgezogene Linie bildeten, »du musstest unbedingt den Sozialarbeiter raushängen und diesen bescheuerten Pakt schließen. Entweder wir alle sagen es oder wir lassen es bleiben. Warum hast du uns nicht gleich erschossen?«
Serdan erwiderte nichts, aber sein frostiger Blick ließ Billys runde Backen im Nu erglühen.
»Leute, das ist doch egal«, brach Seppos bemüht fröhliche Stimme durch unser unterkühltes Schweigen. »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, wir hätten hier Parkour machen können? Mit mir? Ich bin euer Betreuer. Das wäre Wahnsinn!«
»Oh, wir können das auch gut ohne dich«, erwiderte ich eisig. »Sehr gut sogar.«
Seppo lachte nur und wollte mir die Haare verwuscheln, doch ich zog meinen Kopf weg und überlegte mir gerade einen weiteren Angriff, als Herrn Rübsams dünnes Rufen zu uns
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