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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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tiefe Stimme gehabt. Das war ja das Coole gewesen. Ich war mit drei Jungs unterwegs und keiner von ihnen kiekste. Alle keine Kinderstimmen mehr. Aber vielleicht hatte Serdan einen Zwei-Stufen-Stimmbruch erlitten. Jedenfalls hörte er sich nun an wie achtzehn oder neunzehn. Wahnsinn.
    Noch wahnsinniger aber war, was er zu mir gesagt hatte. »Wenn ich jemanden küssen möchte, dann bist es du.« Hieß das jetzt, er wollte mich küssen? Oder hieß das, er würde mich wählen, wenn man ihn unter Androhung schlimmster Folter zwingen würde, jemanden zu küssen? Dazwischen lagen nämlich Welten.
    Oh, so langsam konnte ich das Wort »küssen« nicht mehr hören. Gab es denn nichts Wichtigeres? Doch, gab es. Ein vernünftiges Abendessen und unsere Breakdance-Aufführung. Die ich durchziehen würde, als wäre nichts gewesen. Serdan tat das hoffentlich auch. Und danach fand ich vielleicht noch jemand anderen, der Sofie küssen würde. Einen von den Stirnfrisuren. Irgendjemanden. Meinetwegen Herrn Rübsam.
    Doch dieser Tumult in meinem Kopf musste ein Ende nehmen.

Rache schmeckt salzig
    Es war zwar nicht das Wunder, das ich mir für diesen Abend gewünscht hatte, doch immerhin geschah eines: Die beiden Hüte landeten exakt im richtigen Moment auf Serdans und meinem Kopf und die begeisterten Pfiffe und das wohlwollende fohlen der anderen ließen angenehme Schauer über meinen Rücken rieseln. Deswegen scherte es mich auch nicht, dass die Hüte von einem blauen Schimmer begleitet worden waren, als sie durch die Luft segelten. Leander mochte sie zu uns gelenkt haben, ja, aber das Tanzen bewältigten wir ganz alleine und wir waren großartig.
    Sogar Frau Dangel konnte sich ein verkrampftes Lächeln nicht verkneifen, während Herr Rübsam sich beim Applaus beinahe die Hände blutig klatschte. Sofie und ein paar andere Mädchen riefen »Zugabe!«, nachdem der Song abgelaufen war – gut, wahrscheinlich meinten sie damit Serdan und nicht mich, doch Serdan spielte die letzten Takte ein weiteres Mal ab und schickte als Erstes mich zurück auf die Bühne, bevor er dazustieß und wir nach Lust und Laune improvisierten. Irgendjemand brüllte: »Go, Luzie, go!« Billy? Oder gar Seppo?
    Doch dann war der offizielle Teil des Abends beendet. Herr Rübsam schob die Kissen und Matratzen auf den Boden, zündete seine heiß geliebten Teelichter an und bestückte die Bühne mit weißen Stumpenkerzen. Allerdings schaffte er es nicht, sie vernünftig zum Brennen zu bringen. Als die Dochte zum dritten Mal im Wachs ertranken, wurde ich misstrauisch. Nein, vielleicht war der bunte Abend doch nicht vorüber. Einer von uns wollte noch auftreten – einer, den niemand sehen und hören konnte außer mir.
    Er stiefelte in den Saal, als hätten wir sehnlichst auf ihn gewartet, setzte sich im Schneidersitz mitten auf die Bühne, stimmte seine Gitarre und sah sich gebannt um.
    »Gut, dann eben nicht«, seufzte Herr Rübsam und ließ die Kerzen Kerzen sein. Es brannten ja schon etliche Teelichter. »Mädchen, Jungen, hört mal kurz zu!«
    Es dauerte einige Zeit, bis wir still wurden. Herr Rübsam wartete geduldig. Dann erhob er seine Stimme – nicht viel, sondern nur so laut, dass wir ihn verstehen konnten, wenn wir uns anstrengten. Und seltsamerweise taten wir das.
    »Ich danke euch«, fuhr er ruhig fort. »Ihr wisst, dass wir morgen wieder nach Hause fahren. Heute ist unser letzter gemeinsamer Abend. Deshalb wollen wir nun für ein paar Minuten schweigen und an das denken, was diese vier Tage uns gebracht haben. Ihr könnt die Augen schließen, sie offen halten, ihr könnt stehen oder sitzen oder liegen – nur eines dürft ihr jetzt nicht: reden.«
    Oje. Diese Schnapsidee hatte Herr Rübsam bestimmt auf seinen religiösen Wochenenden aufgeschnappt. Doch für Serdan war es vermutlich die beste Aufgabe, die er jemals bekommen hatte.
    »Ich habe hier einen Karton mit Münzen aus der ganzen Welt. Jeder von euch nimmt sich eine dieser Münzen, und wenn wir mit unserem Schweigemoment fertig sind, schenkt ihr eure Münze jemandem, der euch in diesen Tagen wichtig geworden ist oder den ihr mögt. In Ordnung? Ich habe in jede Münze ein Loch bohren lassen, sodass ihr sie an einem Band um den Hals tragen könnt. Jetzt kommt her und holt sie euch.«
    Als wir alle eine Münze hatten – meine sah orientalisch aus, mit einem Halbmond und fremdartigen Schriftzeichen –, löschte Herr Rübsam das Deckenlicht und verkündete, dass wir nun »in uns gehen« würden. Es war

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