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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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also genau das Gegenteil von dem, was ich wollte. Ich wollte lieber aus mir rausgehen, weil in mir schreckliches Chaos herrschte und ich nicht mehr wusste, was ich denken und fühlen sollte.
    Doch ich wäre gar nicht dazu gekommen, in mich zu gehen. Es war kaum still geworden, da begann Leander, die Saiten der Gitarre zu zupfen – perlend, weich und in Moll. Ich erkannte die Melodie sofort. Es war das Kaspar-Hauser-Lied von Reinhard Mey. Herrn Rübsams und Sofies Lieblingslied. Eine gewellte Strähne fiel in Leanders gebräunte Stirn und warf Schatten auf sein Gesicht, doch sein Huskyauge leuchtete durch die Dunkelheit, als trüge er einen funkelnden Stern zwischen seinen Wimpern. Einen schneeblauen Stern.
    Niemand redete ein Wort, obwohl wir sonst Meister darin waren, den Unterricht zu stören und das zu tun, was wir nicht tun sollten. Es war fast, als würden die anderen auf etwas lauschen. Etwas ahnen. Spürten sie Leander?
    »Den hat die Wölfin gesäugt«, sang er mit rauer Stimme. »Den hat die Wölfin gesäugt …«
    Auf meinen Unterarmen bildete sich eine prickelnde Gänsehaut, die hoch zu meinem Nacken kroch und das enge, heiße Gefühl in meiner Kehle verstärkte. Leander sah so ernst aus – völlig versunken, als wüsste er ganz genau, wie es Kaspar Hauser ergangen war, angefeindet und gehasst von den Menschen, unverstanden und abgelehnt. Hatte Kaspar Hauser denn keinen Wächter gehabt? Hatte es niemanden gegeben, der auf ihn aufgepasst hatte? Er hätte im Grunde nicht nur einen gebraucht – nein, jemand wie Kaspar Hauser brauchte mehrere Wächter. Eine ganze Truppe.
    »Ein Wintertag, der Schnee lag frisch, es war Januar …« Ich sah den Schnee vor mir, bläulich schimmernd wie Leanders Blick, und dann das Blut, rubinrot und so endgültig. Sie hatten ihn umgebracht. Einfach so. Weil er ihnen Furcht einjagte.
    »Die Augen angstvoll aufgerissen, sein Hemd war blutig und zerschlissen. Erstochen hatten sie ihn, dort am Üttinger Feld … dort am Üttinger Feld …«
    Wie konnte Leander als Körperwächter dieses Lied nur so bedeutsam und intensiv singen, dass es mir ein Gefühl verlieh, als habe alles keinen Sinn mehr? Warum kam ich mir plötzlich einsam und verlassen vor wie Kaspar Hauser selbst – und wie Leander? Kam Leander sich denn einsam vor? Und wieso tat er das – sich auf die Bühne zu setzen und zu spielen, obwohl nur ich ihn hören konnte?
    Nein, ich hielt das hier nicht länger aus. Herr Rübsam sollte die Schweigeminute beenden. Jetzt. Bitte! Doch es blieb still. Alle anderen hatten die Augen geschlossen und lagen reglos auf dem Boden. Manche hielten sich sogar an den Händen. Ihre Gesichter waren entspannt und glücklich. Nur ich, ich war kein bisschen glücklich.
    Wo waren Giuseppe und Kelly? Da, unter dem Fenster – auch Hand in Hand, ach, was heißt Hand in Hand – Arm in Arm! Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. Es war also passiert. Sie waren zusammen. Oh nein, das durften sie nicht. Seppo gehörte mir! Ich hatte hier nichts mehr verloren.
    Ich stand auf und bewegte mich auf leisen Sohlen zum Ausgang. Behutsam schloss ich die Tür hinter mir und wollte gerade zu meinem Zimmer sprinten, als ich einen schmalen Schatten in der Ecke neben der Tür wahrnahm. Es war Serdan. Ich merkte, dass ich Herrn Rübsams Münze noch in meiner verschwitzten Hand hielt – so fest, dass ihr Rand Kerben in meine Haut drückte.
    »Hey«, sagte Serdan leise. Wieder schockte es mich, wie tief und männlich seine Stimme geworden war. Im Vergleich zu ihm piepste Herr Rübsam, wenn er sprach. Und Sofie hatte recht mit dem, was sie am Schwimmbad gesagt hatte. Serdan sah nicht mehr aus wie vierzehn. Sondern wie achtzehn.
    »Hey«, erwiderte ich schüchtern. Ich wusste auf einmal nicht, was ich sagen sollte. Aber ich konnte etwas tun. Es war ein spontaner Einfall, doch ich setzte ihn, ohne zu zögern, um und legte Serdan die warme Münze in seine Hand. Er griff zart nach meinem Unterarm und im nächsten Moment schmiegte ich meine Wange an seine Brust und seine Lippen berührten meine Stirn.
    »Dann küss mich eben«, bat ich matt.
    Ich wollte es, obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war, weil Serdan mein Freund bleiben sollte, mein Freund und nichts sonst. Es sollte mich nur ablenken von diesem blöden, nervigen Gefühl in meinem Bauch, das immer bohrender wurde und das ich immer weniger vergessen konnte. Serdan reagierte nicht. Er hielt mich weiter bei sich und es war schön, von ihm gehalten zu werden, aber er

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