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Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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getrimmten Körper zu leben. Wie ihr sehen könnt, erinnert nichts daran an Tanglins Körper. Es ist mein eigener, verdammt, er gehört nur mir! Doch obwohl ich physisch als Erwachsener auf die Welt gekommen bin, habe ich einige Charaktermerkmale mit anderen Kindern geteilt. Unschuld. Empfindungsfähigkeit. Ich war leicht zu beeindrucken. Wenn ich mir zum Beispiel Tanglins Bänder ansah, habe ich regelmäßig furchtbare Angst bekommen. Für mich war er immer mein Vater. Ein starker, kalter und verschlossener Vater. Und dann habe ich in den Aufzeichnungen entdeckt, daß entsetzliche Erschöpfung und Angst ihn heimsuchten. Natürlich habe ich damals auch an die Sauger geglaubt, sehr fest sogar. Es gab Tage, die ich zitternd in meinem Bett verbracht habe. Und da waren Nächte, in denen ich hätte schwören können, gräßliche, hungrige Gesichter an den Fensterscheiben zu sehen. Meine Angst war ungeheuer, denn ich war ja so isoliert. Damals wohnte ich auf dem Kontinent, müßt ihr wissen, am Ostufer des Golfs, nordöstlich von Telset. Nicht sehr weit von hier, bloß fünfzig Kilometer entfernt. Menschen habe ich nie gesehen, höchstens auf Bändern oder in Fernsehsendungen. Nur wir beide haben dort gelebt: mein Lehrmeister Professor Armbruster und ich.«
    »Professor Armbruster!« entfuhr es Anna.
    »Ja, natürlich; kennst du das alte Neutrum?«
    »Aber selbstverständlich, es war doch weltberühmt. Also entspricht alles der Wahrheit. Du hast von Anfang an die Wahrheit gesagt.« Tränen traten in ihre Augen. »Es tut mir so leid, Rominuald.«
    »Nenn mich nicht bei diesem Namen!« schrie ich sie an. »Ich bin nicht dein ehemaliger Bettgefährte, du dumme Kuh. Sehe ich etwa aus wie er? Rede ich wie er? Nein, nein und nochmals nein! Ich bin eine eigene Person, das habe ich bewiesen!« Lastendes Schweigen senkte sich über uns. Anna wandte ihr Gesicht ab und weinte leise. Moses Moses sah mich mit einem Ausdruck kühler Distanziertheit an.
    Ich zuckte hilflos die Achseln. »Also gut, es macht mir Angst. Aber versetzt euch doch mal in meine Lage. Man kommt sich vor, als würde man in einem Haus wohnen, dessen Erbauer in geistiger Umnachtung gestorben ist. Man kommt sich vor, als würde man nicht von einem Schatten, sondern von einem Gespenst begleitet. Ich bin Tanglins Erbe. Ich habe sein Vermächtnis, seine Reflexe, seine Geschwindigkeit, seinen veränderten Körper und seine Schlauheit geerbt. Aber was hat er mir sonst noch hinterlassen? Welche Garantie habe ich, daß er auch tot bleibt? Woher soll ich wissen, ob er nicht noch hier drinsitzt«, ich tippte mir an den Kopf, »sich dort versteckt hält und den rechten Zeitpunkt abwartet? So etwas sähe ihm nämlich ähnlich. Ein Meisterstreich schrecklicher Verschlagenheit. Auch wenn er dadurch selbst zum Sauger würde und mich nur als Tarnung wählt. Ich bin mir sicher, daß ihm dieser Gedanke genau so wie mir gekommen ist, denn unsere Gedanken verlaufen in denselben Bahnen; wie sollten sie auch anders? Aber ich glaube nicht mehr daran, denn ich habe diese kindlichen Ängste überwunden. Ein Mensch wie Tanglin wirft einen langen Schatten, aber mittlerweile bin ich aus ihm herausgetreten. Ich habe meine eigenen Freunde, meine eigene Reputation und meinen eigenen Ruhm. Und den verdanke ich nicht ihm. Sicher, ich habe mich seiner Kampfkünste bedient, aber die waren lediglich akademischer Natur. Hehre Körperertüchtigung im Stil der Antike. Die Wahnvorstellung eines Paranoikers. Ich habe sie vom Kopf auf die Füße gestellt, habe daraus einen verkäuflichen Markenartikel gemacht. Wenn mir Tanglin von Mann zu Mann gegenübertreten würde, könnte ich ihm binnen zehn Sekunden das Rückgrat brechen.« Ich schwieg eine Weile. Das Gewicht meines Nunchucks zog mich ein Stück ins Wasser; trotz der Tragkraft unseres improvisierten Floßes. Seit Stunden schon trat ich Wasser, und eine schleichende Erschöpfung ergriff meine Beine durch das betäubte Prickeln des Smuffs hindurch.
    »Ich habe noch niemandem davon erzählt«, sagte ich endlich. »Professor Armbruster war der einzige, der je davon erfahren hat, und ich habe es seit Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht ist es schon verstorben. Es war alt, so alt wie Tanglin. Und es war ein eingefleischter Einsiedler. Seine Studien bedeuteten ihm mehr als alles andere, mehr auch als seine Freundschaft mit Tanglin. Ich habe das alte Neutrum geliebt. Wahrscheinlich war es der einzige Freund, den Tanglin je hatte. Armbruster hätte mich so

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