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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dürfen Sie zwei Wochen nach Hause.« Er winkte mit der Hand, als wolle er die weiteren Gedanken verscheuchen. »Aber das entscheidet sich ja alles nach diesen vier Wochen.«
    Und dann saßen sie zusammen am Tisch und sprachen über die Bücher, die Juan gerade las oder gelesen hatte. Tortosa zeigte an den Bildern in den dicken Büchern über Kunstgeschichte die Feinheiten der internationalen Bildhauerkunst, die Schönheit, die in den Figuren aus Stein lag und den Funken Genie, der sie so einmalig machte. Er könnte es auch, dachte er dabei. Er hat diese Begabung in sich, aber da kommt ein Geschwür, setzt sich in das Herz und vernichtet ein Leben, das noch gar nicht begonnen hat, sich zu entfalten. Jetzt, im Zusammensein mit Juan, empfand Tortosa die ganze Tragik dieses Schicksals doppelt deutlich – wenn er in die Augen des Jungen schaute, wenn er den schmächtigen Körper betrachtete, der von rätselhafter Kraft beseelt war, dann begriff er, was hier den Händen der Menschen entglitt, heimlich, unauffällig, mit der Harmlosigkeit, die falsche Hoffnungen erzeugte.
    Tortosa erhob sich, als es Mittag wurde.
    »Es ist Zeit«, sagte er. »Wenn Sie Lust haben, kommen Sie heute abend doch zu mir. Ich wohne unterhalb der Akademie am Tajo in einer kleinen Villa. Ich bin immer allein. Außerdem habe ich ein schönes, großes Atelier …«
    »Dann komme ich bestimmt«, sagte Juan freudig. Und dann wurde er plötzlich ernst und fragte: »Hat Jacquina sich sehr erschreckt?«
    Tortosa, der schon die Klinke der Tür in der Hand hielt, fuhr herum. Verblüfft und mit zusammengezogenen Brauen sah er Juan an. »Jacquina? Woher kennen Sie Jacquina?«
    »Ich lernte sie auf dem Flur vor Ihrer Tür kennen, Herr Professor, ehe ich mich bei Ihnen zum ersten Male vorstellte. Sie ist ein schönes Mädchen …«
    »Und sie hat Ihnen den Kopf verdreht, was?« fragte Tortosa wütend.
    »Nein.« Juan lächelte vor sich hin. »Wir waren doch zusammen, als ich den Anfall bekam. Sie tanzte mit mir, sie wollte mir das Tanzen überhaupt erst beibringen … draußen, bei Bonillo in der Taberna. Und da geschah es … Ich glaube, sie war sehr entsetzt …«
    »Ach.« Tortosa kam wieder ins Zimmer zurück und drückte Juan auf einen Stuhl. Verwundert sah der Junge seinen Lehrer an – die Güte war aus den Augen gewichen, es war ein hartes Gesicht, das vor ihm stand. »Passen Sie mal auf, Juan«, sagte Tortosa scharf. »Sie lassen ab sofort die Hände weg von Jacquina …«
    »Aber nein! Warum denn? Sie ist schön …«
    »Weil ich es will! Jacquina ist kein Umgang für Sie! Sie fragte mich nach Ihrem Namen und ich warnte sie. Ich werde sie sofort aus der Akademie entlassen!«
    Juan sprang auf. »Das werden Sie nicht tun!« rief er und ballte die Fäuste.
    »Doch! Und ich werde Sie nicht um Erlaubnis fragen! Ich bin verantwortlich für Sie!«
    »Für meine Kunst! Nicht für mein Privatleben!« schrie Juan wütend.
    »Doch! Auch dafür!« Tortosa drückte den sich Wehrenden auf den Stuhl zurück. »Soll ich deutlicher werden, Juan? Jacquina ist kein Umgang für Sie.«
    »Ich habe sie geküßt.«
    Tortosa nickte. »Wenn auch! Sie haben eine Hure geküßt …«
    Kaum war das Wort gesagt, da sprang ihn Juan wie eine Wildkatze an. Mit der geballten Faust schlug er Tortosa mitten ins Gesicht, daß dieser zurücktaumelte und Halt an dem Türrahmen suchte. Blut stürzte aus seinem Mund – er riß die Hand empor und preßte sie dagegen, damit sein Anzug und das Hemd nicht besudelt würden.
    »Sie Schwein!« schrie Juan wild und klammerte sich am Stuhl fest. »Ich fahre nicht nach Madrid! Ich will überhaupt nichts mehr von euch wissen! Ich fahre zurück nach Solana del Pino!« Dann brach er zusammen, sank auf das Sofa, vergrub den Kopf in die Kissen und weinte haltlos und laut schluchzend.
    Ramirez Tortosa antwortete ihm nicht. Er hatte sein Taschentuch herausgenommen und hielt es gegen den blutenden Mund. Er spürte, wie die Lippe brannte und anschwoll, und mehr noch als die Erschütterung, von Juan geschlagen worden zu sein, erstaunte ihn die plötzliche Kraft, die in den schmächtigen Armen lag. Er setzte sich in den Sessel neben der Tür und tupfte das Blut ab, fuhr mit der Zunge über die aufgeplatzte Lippe und strich sich die Haare aus der Stirn.
    So saß er eine Weile stumm in dem stillen Zimmer, das nur von dem Schluchzen Juans erfüllt war. Als sich Juan aufrichtete, sah er Tortosa noch immer mit seiner aufgeplatzten Lippe beschäftigt, und er

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