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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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die nach ihr kamen, warum konntet ihr nicht einfach mal satt sein, könnten sie fragen, und Toto würde doch keine Schuld empfinden, keiner war schuld, alle machten nur mit. Man konnte den Damen nicht ihre Erinnerungen rauben, die auftauchten, während das Jetzt verschwamm.
    Frau Meier weinte. Es war einer dieser Tage. Vielleicht verstand sie auch, dass wieder ein Abschied anstand, dass sie gingen, die Kinder, die Partner, die Geliebten, die Geschwister, die Freunde, alle gingen irgendwann, weil sie meinten, es sei unglaublich wichtig für ihre großartige Entwicklung, für ihr wunderbares Ego und den Lebensverlauf. Und wenn man kurz vor dem endgültigen Verschwinden ist, begreift man, dass alles ein Mist war. Man hätte mit den Menschen bleiben sollen, die man kannte, man hätte sie halten sollen, sich aneinanderdrücken in der Undurchschaubarkeit der Welt. So ein sinnloses Gehen.
    Die Mehrbettzimmer waren in stark depressionsfördernder Farbe gestrichen. Hier lagen sie. In verschmutzten Operationshemden, die den Hintern nackt lassen, Essensreste am Gesäß, wie waren die dahin geraten, die schlechtsitzenden Windeln, mitunter verschmolz das Gewebe mit der Matratze, das Gebiss wurde keinem mehr eingesetzt, zu gefährlich, und die gurgelten, schnauften, stöhnten, ächzten, in jedem Mehrbettzimmer hing eine große Uhr. Deine Zeit ist abgelaufen, sagte sie, mit jeder Sekunde lauter werdend, bis sie wie eine große Glocke tönte. Die Alten hatten Angst vor der Uhr. Sie hatten Angst und nichts zum Halten. Ein Schlachthaus ohne Erlösung. Ein Warteraum in nuklear verseuchtem Gebiet. Röcheln, sich einnässen, sich einscheißen, stöhnen, und unklar, was da im Kopf passiert, aber warum soll da nichts passieren, nur weil sie es nicht mehr sagen können, weil sie nicht mehr kräftig sind, federnd, wippend, in Anzügen, mit quadratischen Schuhen und Rucksäcken, Anzüge und Rucksäcke, das trägt das Arschloch draußen, und hier drinnen verrecken seine Eltern. Denen das Arschloch nichts mehr schuldig ist, in Zeiten der Unsicherheit. Ein guter Hass auf die Elterngeneration, mit ihren miesen Ratschlägen, diese satten Alten mit ihren Häusern, Stellungen, Renten. Die Kinder, die jetzt Fünfzigjährigen, haben einen Bauchansatz, die Taille ist verschwunden, sie werden alt und haben es zu keiner Sicherheit gebracht, denn um sie entgleist gerade die Weltordnung, die so unumstößlich fest gewesen ist, mit der sie aufgewachsen sind, in dem Bewusstsein, auf der Gewinnerseite zu stehen, in einem westlichen Land, als weißer Mensch, der nun einfach die Arbeit verliert und die Figur.
    Sie waren immer seltener zu Besuch gekommen. Am Anfang, als die Mutter noch in sich zu Hause war, da ertrugen sie das Gejammer nicht. Der hässliche Raum, das schlechte Essen, die bösen Bettnachbarn. Das ertrug man doch nicht mit Schuldgefühlen, aber wo sollten sie denn hin, die Eltern? In die Wohnung? Die war doch zu klein, und man hat ein Recht auf einen guten Feierabend. Und das Gejammere, der Krieg, der Aufbau, die Essensmarken, der Hunger, das schmutzige Wasser, die schlechte Gesundheit. Das hält doch keiner aus, nach zehn Stunden High Performance. Das macht einen doch irre, da will man doch draufhauen. Dann wurden die Besuche seltener, als die Demenz kam, das war langweilig, das immer gleiche Spiel, wer sind Sie, wo ist mein Sohn, wo meine Tochter, welchen Tag haben wir heute, ich muss das Baby stillen, das hält doch kein vernünftiger Mensch aus. Und dann vergaßen sie die Mutter völlig. Kein Verdrängen, das war ein reines, klares Nichtvorhandensein der Erzeuger, ohne dunkle Träume. Bei der Beerdigung wird geweint, aus Selbstmitleid, wegen der Kindheitserinnerungen, weil sie doch nicht genug geliebt worden sind, wegen der Vorstellung, wie es hätte sein können, auf dem Land in einem Mehrgenerationenhaus, mit Tieren. Und fucking Apfelbäumen.
    Frau Meier weinte. Sie hatte nie viel geredet. Toto wusste, dass sie alles verstand, was sie ihr erzählte jeden Tag, zwischen Funktionspflege und Fütterung, wie es draußen jetzt aussah, zeigte Fotos und sang ihnen Lieder vor. Das Publikum konnte nicht weglaufen, sie lächelten, die Alten, in ihren Betten und Rollstühlen.
    Toto stand mit ihrer Tüte auf dem Flur, Neonlicht flackerte, die Röhre müsste ausgewechselt werden, aber von wem. Vielleicht könnte Toto sie besuchen, aber die meisten würden sie nicht mehr erkennen.
    Und es war der Nachmittag am letzten Tag des Jahres. Die Gegend, in der

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