Vielen Dank für das Leben
entzogen. Da waren Gefühle entstanden. Vor denen floh Kasimir jeden Morgen. Er hatte nichts zu tun in der Stadt, die es nicht mehr gab. Kasimir setzte sich in ein Café, zwischen Touristen, die mit ernsthafter Verzückung alte Filme nachstellten. Sie versuchten französisch zu tun und spreizten dabei die Finger von den Cappuccinotassen. Himmel, da trinkt doch kein Franzose einen Cappuccino. Da gab es verdammt noch mal keine Franzosen mehr hier in der Innenstadt, die in Cafés hätten sitzen können. Die Franzosen trugen billige Kleider, versuchten Haltung zu bewahren und bedienten die Touristen.
Kasimir versuchte sich abzulenken. Er hatte Glück gehabt. Er war von neunzehnhundertachtzig bis in die beginnenden zweitausender Jahre in einem Alter gewesen, das es ihm erlaubte zu genießen. Sich, sein Geld, die Reisen. Er hatte natürlich wie die meisten geglaubt, die Entwicklung der Welt müsse erfreulich werden. Elegante Fortbewegungsmittel, Wohlstand, eine gestiegene Intelligenz der Weltbevölkerung. Fast bedauerte er heute, dass er die Zeit der Unbeschwertheit nicht bewusster genossen hatte. Es hatte damals noch Platz gegeben, intakte Städte, Orte, wo die Natur noch nicht aus Plastik bestand. Es hatte noch unterschiedliche Menschen gegeben, Spinner und Geisteskranke, es hatte Kinder gegeben. Heute bestand die Welt aus einer Ladenkette und einer Restaurantkette. Alle Speisen schmeckten gleich, die Menschen teilten sich in Touristen und Arbeiter. Die Reichen waren nicht zu sehen. Reiche wie er hielten sich normalerweise in Gated Communitys auf. Bungalowsiedlungen hinter Starkstromzäunen mit Golfplatz. Übertriebene Angst. Kriminelle Energie vermochten nur noch die Bewohner vergessener Restgebiete aufzubringen, und denen war der Weg zu weit, denn sie waren wegen der Unterernährung zu schwach für lange Fußmärsche.
Himmel, sind die Touristen hässlich! Reisebusse voller Menschen aus den Vororten der Welt wurden mit Billigflugzeugen nach Paris gekarrt, in Betonhotels in den Vororten untergebracht, wo es aussah wie bei ihnen daheim, warum bleiben sie nicht zu Hause, diese Deppen. Alles war so unglaublich kontrolliert und abspritzbar geworden. Am Morgen wurden dressierte Katzen ausgesetzt, die den totrenovierten Straßen ein wenig Leben einhauchen sollte. Das gelang nicht.
Es gelang Kasimir nicht, zu vergessen. Seine Gedanken flogen kurz, und da wartete immer und hinter jeder Wolke Totos Gesicht.
Da begannen sich Gefühle zu entwickeln. Das passiert, wenn man einen wie Toto länger in seiner Nähe hat. Dieser Große schlaffe Mensch, der wie Treibgut durch seinen Aufenthalt auf der Welt gespült worden war und in dem es nicht einen schlechten Gedanken gab. Der nie Schadenfreude empfand, nie hasste, der nie etwas wollte. Der wirkte, als säße er ständig am Boden und spielte mit unsichtbaren Tieren. Das hält man doch nicht aus, in der Gegenwart so eines Menschen. Der schon am Morgen lächelt und seine runde Hand auf einen legt.
Und weiter.
Toto wagte kaum zu atmen. Selbst das Denken versuchte sie zu unterlassen, es konnte Geräusche erzeugen.
Kasimir saß, wie immer vollendet elegant, sogar einen Seidenschal trug er um den Hals, in seinem Sessel, mit Blick auf ein ehemaliges jüdisches Feinkostgeschäft, wo tagsüber als Orthodoxe verkleidete Studenten Jeans verkauften, und hatte nicht aufgeblickt, als Toto die Wohnung betrat. Und, wieder Obdachlose gefüttert? Fragte er nicht, sondern stellte er fest mit Verachtung in der Stimme, so unüberhörbar, als hätte er den Tonfall extra für diesen Moment in einer Theater-Arbeitsgemeinschaft geübt, so einer, die es früher gab, als die Menschen noch mit eigener Hand Freizeit zu beseitigen hatten.
Toto stand im Salon, der seinen Ausdruck der Stimmung angepasst hatte und fast bedrohlich wirkte, in seltsamem Zwielicht. Toto sah Bulemanns Haus und vermeinte Große Katzen trampeln zu hören, doch es war nur ihr Herz.
Machst du dich wieder für jemanden stark, setzt dich ein und leidest? Kasimir sah nicht auf, er starrte durchs Fenster. Ja, für deine Zwitter könntest du kämpfen, gegen die Zwangsoperation, für alle, die jetzt dahinsiechen, von Krebs zerfressen wegen Dauerhormonbeschuss, ja, da könntest du mit deinen Scheißthermoskannen noch richtig was bewirken, aber du nimmst dich ja nicht mal wichtig. Wie kann dich dann ein anderer wichtig nehmen. Du hast in deinem Leben nichts erreicht. Du hattest mal eine Stimme!
Die Katzen in Totos Vorstellung verschwanden,
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