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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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stattdessen sah sie sich singend in einer dunklen Bar, vor langer Zeit. Und Kasimir mitten im Publikum. Doch dann wurde das Bild unklar, denn Kasimir hatte sich in einen rechten Schwung geredet.
    Aber das war dir zu anstrengend, Kritik aushalten, ja wofür denn. Dann zieh ich doch lieber mit meinem Helfersyndrom durch die Welt und lasse andere für mich leben. Und eins, Kasimirs Stimme rutschte in eine höhere Stimmlage, eins will ich dir schon immer mal sagen, es ist wunderbar, dass du eine Bewusstseinsstufe erreicht hast, von der andere nicht mal träumen, weil sie im Vergleich zu dir Lurche sind, es ist wunderbar, dass du keinen Hass empfindest, keine Vorurteile, nichts verstehen musst und alles akzeptieren kannst. Aber es ist beschissen langweilig.
    Toto wollte nicht vorhanden sein. Fast immer war es ihr gelungen, Vorwürfe anderer Menschen, ihre Aggressionen, ihren Hass augenblicklich zu filetieren. Es war doch nie gegen sie gerichtet gewesen, all die Bosheit entsprang doch einer tiefen Traurigkeit. Doch das wollte nicht funktionieren: eine Schwäche suchen, erklären und verstehen, sanft bleiben, ein verdammtes Lamm, das alles griff nicht in dem Moment, da Toto sich sah in der Bewertung durch einen, den sie liebte.
    Die Augen waren ein wenig trübe und gelb geworden, die Haare grau, aber nicht in einer interessanten Art, sondern schwefelfarben. Der Körper, ach der Körper, er war das längst verlassene Schlachtfeld des Krieges, der in Totos Magen fortgesetzt wurde. Die Form, die nicht vorhandenen Hüften, das traurige Bein waren einem männlichen Bausystem entnommen und mit weiblichem Fleisch überzogen worden, mit Fettgewebe, Dellen, und das war doch alles nichts, was einen anderen dazu bewog, streichelnd darüberfahren zu wollen.
    Toto hatte sich nie besonders für ihr Aussehen interessiert. Es war ihr wichtig, andere nicht mit Geruch und Hässlichkeit zu belästigen. Ihre Kleidung fiel immer angenehm und sauber um ihren Körper. Von der früheren Bärenhaftigkeit war nichts geblieben. Toto wirkte unterdessen, wenn man einen Passanten gefragt hätte, wie ein mongolischer Transvestit.
    Kasimir blickte starr aus dem Fenster, als fände draußen ein interessantes Singspiel statt.
    Ja, vielleicht hast du Recht, sagte Toto, sich von der Betrachtung seiner Erscheinung abwendend, hoffend, dass wieder ein Gespräch entstehen konnte, Worte, Sie wissen schon, die manchmal verhindern, dass Menschen sich körperlich verletzen.
    Aber da war es auch schon vorbei. Da kam nichts mehr, keine Zuwendung, keine Erwiderung in einem leeren Raum, den Toto wie zum ersten Mal wahrnahm. Ein wenig lächerlich fast, dieses Vorzeigen eines guten, modernen Geschmacks. Nur Designmöbel hielten sich in ihm auf, vierziger, fünfziger Jahre und natürlich keine bekannten Größen, nichts aus dem Kanon, nur verkannte finnische Genies standen lauernd im Raum und glotzten auf den Eindringling des Massengeschmacks, einen Eileen-Grey-Tisch, auf dem hingeworfen ein Buch über die Situationisten lag. Toto betrachtete Kasimirs Hinterkopf.
    Sie hätte ihn gerne berührt. Und wagte es nicht. Vermutlich hätte sich alles prächtig entwickelt, hätten sie sich öfter überwinden können, die Hinterköpfe ihrer Nachbarn zu berühren, die Menschen. Es war schwieriger, als sie mit Hilfe eines Baseballschlägers einzuschlagen. Toto stand ratlos in seinem Leben und war ganz sicher, dass Milliarden im selben Moment in Neubauwohnungen in Papua-Neuguinea oder Nauru, in Neufundland und Appenzell Innerrhoden standen und am Drama ihrer Existenz, die sie erstaunlich wichtig nahmen, verzweifelten. Es gelang ihnen natürlich nicht, sich in eine Relation zu diesem seltsamen durchs All eiernden Planeten zu setzen, der Witz ihres Aufenthaltes auf ihm wollte sich ihnen nicht erschließen, sie waren überwältigt von ihren Gefühlen, waren Opfer schlechter Kindheiten oder mieser Ernährung, verletzt in ihren Gefühlen von Partner oder Kind, traurig über den Tod der Großmutter und sicher, dass die Erde nur etwas war, was sich zufällig um sie geformt hatte.

Und weiter.
    Einige Wochen später schlug Kasimir zu.
    Toto hielt sich am Waschbecken fest. Die Schmerzen waren mit der Übelkeit zusammengetroffen. Eine scheußliche Vereinigung, denn müsste sie sich nun übergeben, würde es den Krampf im Unterleib verstärken. In jenem Moment, zusammengezogen in sich, merkte sie erst nicht, woher dieser Schmerz auf dem Kopf kam, ob das Elend sich nur in die höhergelegenen

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