Vielen Dank für das Leben
Stille, bessere Lebewesen werden?
Toto konzentrierte sich auf seinen Körper und dessen Geräusche. Er studierte die Struktur des Straßenpflasters und hatte gute Laune. Er hatte es weit gebracht. Statt hinter einem Stall zu liegen und Kühe anzusingen, saß er auf einer kapitalistischen Straße und konnte interessante Beobachtungen machen. Toto zog die Beine eng an seinen Körper, die ersten Touristen liefen an ihm vorüber, einen unbedingten Ausdruck von Gier in den Gesichtern. Sie würden, fragte man sie, sagen, dass die Liebe die stärkste Kraft in ihrem Leben sei, sagen, dass sie, unsichtbares Schlagen an die Brust, nichts mit jenen gemein hatten, die ihre Kinder prügelten oder den Nachbarn erschossen. Die Kühltruhen der Leichenhäuser voller Kinderleichen, totgequälten, verhungerten, blaugeschlagenen, und Amokopfern, die Gerichtssäle verstopft von Nachbarn, die sich anschrien wegen Blumenrabatten, das stimmte doch alles nicht, da klammerten sie sich doch an ihre Märchen, an ihre Gebetsbücher und glaubten an ihre Güte und dass es ihnen glänzend gelungen sei, die Genetik zu überwinden. Toto ermahnte sich. Es gibt doch so viel Schönes auf der Welt. Familien, die sich weinend in den Armen liegen, Mutter Teresa, Umzüge der Stadtfeuerwehr und kleine Kinder, die auf den Knien ihrer Opas sitzen. Ein Schatten fiel auf Totos Gedanken. Ein junger Mann stand vor ihm. Er sah aus wie etwas aus einem Traum, und er schien zu leuchten. Menschen sterben auf Straßen wie dieser, sagte der junge Mann, der seltsam somnambul wirkte, die blonden Locken schwebten um ein Gesicht wie gemalt, eine gerade Nase, etwas schräge Augen, der junge Mann war eine Frau oder eine Katze und hatte einen seltsam angeklebten Vollbart, der das halbe Gesicht verdeckte. Am verwirrendsten jedoch war der komplett abwesende Zustand des Mannes, wie ein Zimmer, in dem man seit Jahren Urlaub macht und das plötzlich daheim an der Tür klingelt. Noch während Toto überlegte, ob dieses Bild wirklich zutreffend war, sagte der junge Mann: Du kannst bei mir übernachten. Selbstredend, dachte Toto, nichts normaler, als bei einem Fremden übernachten, der aussieht wie eine Katze mit angeklebtem Bart.
Toto wunderte sich nicht. Er war in einem neuen Land, in einer fremden Stadt, was wusste er schon von den Sitten hier. Er folgte dem Mann über die Straße in eines der verwahrlosten Häuser, die er eben noch ohne Neid angesehen hatte. Schade. Das Gefühl der Verwunderung wäre möglicherweise stärker gewesen, hätte er vorher in erleuchtete Fenster geschaut und dort, wo das Licht war, einen Platz ersehnt, stärker als alles auf der Welt.
Die Erdgeschosswohnung des jungen Mannes machte, dass man sofort seine Schuhe ausziehen wollte. Überall lagen feine Stoffe auf den Chaiselonguen, die Farben harmonierten außerordentlich, die Teppiche dufteten und waren aus etwas unbekannt Weichem.
Kaschmir. Sagte der junge Mann, der beobachtete, wie Toto erstaunt den Teppich berührt hatte. Keine Ahnung, ob Kaschmir ein Tier oder eine Wolle ist, mit dem Landstrich zu tun hat oder ob es einfach eine fremde Sprache war, in welcher der junge Mann nun mit ihm Kontakt aufnehmen wollte. Vermutlich polarisiert meine Wohnung, sagte der junge Mann, heute polarisiert ja alles, was nicht Anzeige der Tageszeit ist. Will man ausschließliche Zuneigung, dann muss man sich umbringen. Aber vermutlich sind selbst die Betrachter der Leiche sich dann nicht einig. Der Tod ist nur ein anderes Wort für Neubeginn, mögen manche sagen, soll ich dir zeigen, wo du übernachtest? Toto hatte nichts gesagt, das war wohl auch nicht gefordert.
Im zweiten Raum der Wohnung stand wieder eine Chaiselongue, man konnte einen kleinen Fetisch erkennen.
Du bist sehr schön, sagte der junge Mann, zu dicht neben Toto, und wieder war da eine Ahnung, ein Wiedererkennen, die Ahnung verschwand, denn Toto bemühte sich, den Witz zu verstehen, den der Mann gerade gemacht hatte.
Auf alten Bildern hatte Toto solche gesehen, wie er selbst einer war, sie waren Engel und schwebten nackt an Decken. Aber er konnte sich doch nicht ständig in Kirchen oder Museen neben Engelsdarstellungen plazieren, um sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Wo kommst du her, fragte der junge Mann, der sich nicht vorstellte. Toto wäre es nicht eingefallen, ihn etwas zu fragen, das wäre eine Neugier, die ins Nichts führt. Toto dachte, jeder Mensch gibt genau so viel von sich preis, dass ihm nicht unwohl wird, und er ahnte noch nicht,
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