Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
Vom Netzwerk:
selber war, aber auch dorthin war es nicht leicht. Manchmal war Toto mit einer dieser Barbekanntschaften in die Wohnung gegangen. Alle hatten die Fenster verdunkelt, Kerzen standen herum, und Ketten hingen an den Wänden oder Kruzifixe, Schädel dienten als Aschenbecher, und im Flur standen schwarze spitze Schuhe. Hast du einen Plan, im Leben, fragte Toto, um einen anderen als seinen eigenen, nicht vorhandenen Lebensentwurf zu erforschen, auf Matratzen sitzend, in dunklen Wohnungen, die immer nach Rauch rochen. Nach dem Konzert einer Punkband, bei dem der Sänger nach einigen Minuten von der Bühne gefallen war, war er mit einem jungen Mann in dessen Wohnung gegangen. Toto ging oft zu Konzerten, bevor seine Schicht begann, dort standen Menschen in schwarzen Kleidern und schoben ihre Körper langsam vor und zurück. Jeder ein hungernder Planet, denn essen war so unwichtig, dass die meisten es vergaßen, Kleidung musste nichts außer schwarz sein, wärmende Faktoren wurden völlig vernachlässigt. Es hatte keiner ein Ziel, denn sie wussten, dass Ziele albern waren, in jener Reihung von Ereignissen, die man Leben nennt und die zum Tod führt. Die Menschen, die sich um Toto bewegten, von denen alle Wochen einer verschwand, verstorben an einer Lungenentzündung oder an übermäßigem Drogengebrauch, waren zwanzig bis dreißig Jahre alt, sie arbeiteten stundenweise in Plattenläden, spielten in Bands, wollten Schauspieler sein oder Künstler, es war ausgesprochen selten, dass einer von ihnen bei einer Versicherung hätte arbeiten wollen, eigentlich wollte keiner arbeiten, denn das Leben war zu kurz, die bürgerlichen Formen zu lächerlich.
    Der junge Mann, den Toto begleitet hatte, trug einen schmutzigen Frack, mehrere Totenkopfringe und lange schwarzgefärbte Haare. Einen Plan? fragte der junge Mann. Wozu soll das denn gut sein? Was machst du denn jeden Tag, fragte Toto weiter. Der junge Mann nahm einen langen Zug, seine Fingerkuppen waren gelb. Ich schlafe bis mittags, dann geh ich auf die Straße, schauen, ob alles noch steht, hole vielleicht was zu essen. Und Zigaretten. Dann gehe ich wieder in meine Wohnung und male. Ich höre Musik und male, bis es Zeit wird, in die Bar zu gehen. Der junge Mann zog eine Spritze auf. Oft setzten sich Totos neue Bekannte Heroinspritzen, auf jeden Fall lief Musik. Joy Division bei den Fixern, Cure bei den Haschrauchern.
    In der Wohngemeinschaft über der Bar, in der es immer kalt war, die Elektrizitätsrechnung zahlen war ein Zugeständnis, das keiner machen mochte, übernachteten Bands auf den Matratzen, Kajalstifte lagen in den Badezimmern, und erstaunlich traurige Liebesgeschichten begannen und endeten in wenigen Tagen. Was Toto von den Affären sah und verstand, war nichts, das ihn etwas vermissen ließ. Dies fiebrige Aneinanderklammern bei Nacht und die große Erstarrung in der Helligkeit und dies Schweigen ist schon unter normalen Umständen schwer, völlig unmöglich aber wird es, wenn die Beteiligten eines Paarversuches immer ein wenig hungrig und schlechter Laune sind.
    Später sollte herausgefunden werden, dass in jenen Jahren der Grundstein für eine Generation von Osteoporose-Patienten gelegt wurde, es gab kaum Zahnimplantate, und wenn es sie gab, waren sie utopisch teuer, und deshalb hatten viele der jungen Menschen Zahnlücken oder schlechtsitzende Brücken, denn die Mangelernährung und die Drogen hatten ihr Gebiss angegriffen. Es war die Generation jener Versager, die sich auch später nie in Hierarchien einfügen konnten, falls sie die neunziger Jahre überlebten. Es waren die, die sich nie als Arbeitskraft sehen würden und, wenn überhaupt, Karrieren im Plattenhandel oder als Gastwirte in Ibiza machten. Eine unregierbare, für den Kapitalismus uninteressante Bevölkerungsgruppe, denn auch am Konsumieren, sofern es nicht Drogen und Musik betraf, hatte sie keine rechte Freude.
    Toto verstand den Widerstand gegen den Konsumterror, wie es die jungen Menschen gerne nannten, nicht. Er hatte sich seinerzeit durch die Abwesenheit von Farbe und Möglichkeiten stärker unter Druck gesetzt gefühlt. Nichts war doch besser geeignet, Depressionen herzustellen, als das Abhandensein von wenigstens scheinbaren Wahlmöglichkeiten. Hier, im Überangebot von Joghurts mit künstlichen Aromen und Turnschuhen mit seltsamen Farbzusätzen, war es ihm ein Vergnügen, nichts wirklich zu brauchen, eine Art Erhabenheit durch Verzicht, die der Mensch im kommunistischen System niemals erleben

Weitere Kostenlose Bücher