Vielen Dank für das Leben
konnte. Toto stand von seinem Fensterbrett auf. Es war Zeit. Er ging in die Bar. Seine Schicht begann. Er hatte ein paar neue Lieder. Er sang.
Robert stand
vor dem Zielort seines Auftrags. Aus einem Kellerloch drang der nahezu perfekteste Gesang, den er je gehört hatte.
Er folgte der Stimme ins Innere der Bar. Wenn er richtig hörte, umfasste diese unausgebildete Stimme vier Oktaven, vermutlich würde man sie mit Training auf fast unfassbare sechs Oktaven bringen können. Er sah eine völlig befremdlich wirkende Frau vor einem Klavier. Das Spiel war stümperhaft. Der Gesang in einer Art besessen, der abstoßend und faszinierend wirkte. Robert setzte sich mit einem Bier, das tranken die jungen verhungerten Menschen in diesem Lokal, auf einen Barhocker und versank in die seltsame Darbietung. Robert wusste: Was er in diesem Loch hören durfte, war ein außerordentliches Talent. Da konnte Kunst entstehen, wirkliche Kunst, Kunst, die Menschen wahnsinnig werden ließ, wenn sie endlich erkannten, wie unbedeutend sie waren und wie glücklich sie wurden, weil es doch etwas gibt, was größer ist als die Albernheit ihrer Bausparverträge.
Es war der letzte Augenblick einer Kunst, die mit Leidenschaft, Wahnsinn und der Suche nach Erhabenheit zu tun hatte. Es war der letzte Augenblick, da bildende Künstler über dreißig und ohne Hochschulabschluss, da Galeristen ohne reiche Eltern oder Schriftsteller von ihrer Arbeit leben konnten und sich nicht durch den Unterhaltungsbetrieb, der Subventionen verteilte, hindurchvögeln mussten. Der letzte Augenblick, in dem Kunst noch etwas Subversives war, das wenigstens scheinbar den Kampf gegen den Kapitalismus aufnahm. Eine absurde Idee, denn natürlich würde der schon bald siegen, in Buchhandlungen gibt es dann nur noch Kochbücher und die Biographien berühmter Fernsehstars, in den Theatern ausschließlich bewährte, blitzsauber inszenierte Klassiker. Es war der letzte Augenblick, in dem es noch möglich war, in Europa mit wenig Geld zu überleben, ohne in Obdachlosenunterkünften zu lagern.
Robert wusste, dass er es nicht einmal jetzt, in der Hochzeit der Dilettanten, zu etwas bringen würde.
Er hatte die Kritik seines letzten Auftritts wörtlich im Kopf:
Warum in der historischen Aufführungspraxis mit einem Authentizitätsargument auf Countertenöre zurückgegriffen wird, bleibt ein Rätsel. Der Einsatz der Kopfstimme ist wenig authentisch und verwandt mit dem Einsatz von Kastraten, deren Stimmen – so weit kann man dies unzweifelhaft den zeitgenössischen Quellen entnehmen – einen Fünf-Oktaven-Umfang aufwiesen. Eine gänzlich misslungene Aufführung der Or la tromba aus Händels Rinaldo mit dem unsagbar albern wirkenden Robert Rainald.
Robert war an einem Punkt angelangt, an dem er verstand, dass aus seiner Karriere nichts mehr werden würde. Er war am Ende seiner Möglichkeiten als Sänger, er war fast fünfzig, er war verbittert. Robert beobachtete die Erfolge anderer Countertenöre mit leidenschaftlichem Hass. Er wurde nicht mehr gebucht. Sein Höhepunkt war Mitte der achtziger Jahre beendet, als die Aufregung um Klaus Nomi verebbt war. Robert hatte es nicht einmal zu einem Engagement im C-Haus einer Kleinstadt gebracht, sein Agent buchte ihn für Rentnerkonzerte in Seebädern. Robert finanzierte sein Leben durch gelegentliche Untervermietungen und Gesangsstunden. Vielleicht würde es Robert bessergehen, wenn er den Umfang und die eingeschränkten Möglichkeiten seiner Stimme akzeptierte, doch davon war er weit entfernt, noch schob er das Ausbleiben seines internationalen Erfolges auf Intrigen, Speichellecker, Politik und persönliche Rache von Kollegen. Robert war homosexuell, was jetzt, Ende des Jahrtausends in einer kapitalistischen Großstadt lebend, keine spürbaren Beeinträchtigungen mehr mit sich brachte, doch war man eigentlich homosexuell, wenn man nicht sexuell war? Seit Jahren, seit er die Haare verloren und zwanzig Kilo zugenommen hatte, wurde Robert nicht länger mit der Aufmerksamkeit anderer Männer beschenkt, man konnte sagen, für die Männer, die ihn interessierten und die meist jung waren, existierte er nicht mehr. Robert hatte durchaus gute Erfahrungen mit Strichern gemacht, sich jedoch regelmäßig und schmerzhaft in die Prostituierten verliebt, weil er Sex von Gefühlen, die nach Liebe klangen, nicht trennen konnte. Robert sah sich als lieben, vertrottelten Versager, wenn er in freundlicher Stimmung war, und als abstoßenden verkommenen
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