Vielen Dank für das Leben
nicht formulieren. Heute nennt man Menschen wie Sie Intersexuelle, Sie leiden an einer geschlechtlichen Unklarheit.
Ich leide nicht, sagte Toto. Der Arzt verstummte sehr kurz. Wie auch immer, Sie, ähm, leiden an einer Fehlentwicklung, eine Laune der Natur, die unglücklicherweise nicht, ähm, repariert wurde. Was hätte man da reparieren können, fragte Toto und stellte sich seinen Körper vor, nun, da ihm klar war, wie ein ordentlicher Leib auszusehen hatte. Toto war verwirrt, er hatte Fragen, doch der Chefarzt war keine Person, der er sie hätte stellen wollen. Richtigerweise, fuhr der Arzt fort, und sein Gesicht wurde rot und verriet chirurgische Erregung, wurden bis vor wenigen Jahren im Säuglingsalter automatisch geschlechtliche Anpassungen vorgenommen. Die Betroffenen brauchten später nicht einmal davon erfahren. Doch heute muss ja alles durchdiskutiert werden, nicht wahr. Reden, reden, reden. Und wird es dadurch für die Betroffenen einfacher? Können sie durch das Gequatsche ihre Fortpflanzungsfähigkeit wiederherstellen, einen Partner finden, ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen? Die Menschenrechtsorganisationen haben sich da sehr stark hervorgetan, aber ich frage Sie, was ist das denn für ein Leben, nicht wahr?
Der Piepser erklang, der Chefarzt musste zu einer anderen Mission und ließ Toto verwirrt zurück.
Toto sah vor sich die Darstellung rosiger, plastisch wirkender Geschlechtsteile. So sahen ordentliche Menschen mit rechtschaffenen Genitalien aus. Darum hatte er früher alleine duschen müssen, darum hatte der einzige Junge, an dessen Freundschaft er interessiert gewesen war, ihn ausgelacht, darum all die Andeutungen, die seltsamen Blicke. Vermutlich hatten seine Eltern ihn weggegeben, weil er ein Ding war. Toto meinte sein Leben in einem Schlaf verbracht zu haben und erst heute aufgewacht zu sein, hatte er doch immer geglaubt, ein sehr normaler, etwas dicker Mensch zu sein. Doch er war ein Problemmensch. Problemmensch, das Wort gefiel ihm, und er hatte es wohl laut ausgesprochen, denn Pfleger Peter, der schon seit Minuten im Raum lungerte, nachlässig Geräte überprüfte und nicht vorhandene Flecken von Defibrillatoren entfernte, warum lagen da eigentlich Defibrillatoren, trat zu Toto.
Dann hat er es dir jetzt gesagt, fragte Peter, und Toto nickte, denn es war klar, worauf sich der Pfleger bezog. Unklar war jedoch, was der Pfleger von ihm wollte. Peter war ein stabil gebauter junger Mann, mit fast schönen Gesichtszügen, fast, weil ein Permanent-Make-up seiner Augenbrauen ihm ein allzu starres Aussehen gab. Mit lauerndem Ausdruck sah er Toto an, wartete so sehr auf eine Frage, dass es Toto fast leidtat.
Also erzähl schon, was weißt du alles, sagte Toto und versuchte, interessiert zu schauen. Er war nicht interessiert. Wäre er ein anderer, dann hätte er nun endlich eine Ausrede für sein offenbares Versagen und würde sich sofort eine Selbsthilfegruppe suchen, um über seine Gefühle zu reden, aber Toto hatte keine Gefühle, die ihn betrafen. Er war mit sich, mochte sich, und es wäre ihm nicht eingefallen, an sich zu leiden. Froh, endlich reden zu können, erzählte Peter. Du hast Glück gehabt. Professor Konstantin hat dich hergebracht und die Eingangsuntersuchungen gemacht. Sie hat früher einmal hier gearbeitet, sie ist eine Kapazität. Kapazitäten benötigen Defibrillatoren, freute sich Toto, wenigstens ein Rätsel gelöst. Sie hat dir Informationsmaterial hiergelassen, stieß Peter hervor, seine Aktivität war verwirrend, hast du gesehen? Hier, das wusste ich auch nicht. Peter wühlte in einer Artikelsammlung und zitierte: Bis ins 18. Jahrhundert war es rechtliche Praxis, Hermaphroditen auf Wunsch ihre Zweigeschlechtlichkeit zuzugestehen oder sie selbst entscheiden zu lassen, welchem Geschlecht, Mann oder Frau, sie angehören wollten.
Ab 1830 wurde eingeschränkt, dass Hermaphroditen bis zu ihrem 18. Geburtstag selbst entscheiden müssen, welchem sozialen Geschlecht sie zugeordnet werden wollen. Aber eine Zuordnung muss stattfinden, sie muss, das hat ja keine Ordnung sonst. 1895 wurden Hermaphroditen im Gesetzbuch juristisch für nicht existent erklärt. Das ist bis heute unverändert. Intersexualität gilt als medizinisches Problem, also als Krankheit, und fällt nicht in den politischen und rechtlichen Zuständigkeitsbereich.
Nein, Toto hatte diesen Text nicht gesehen, er wusste nur, dass er Nichts war und sich gut fühlte. Er verstand nicht, wozu eine klare Zuordnung
Weitere Kostenlose Bücher