Vielen Dank für das Leben
vor Jahrzehnten, als der sozialistische Teil des Landes noch existierte, zur Welt gebracht hatte, war wieder vor ihm gelegen. In Unglück gealtert. Er hätte jetzt tun können, was er damals versäumt hatte. Aber was hatte er gemacht? Nun, was hatte Doktor Wagenbach gemacht? Was er immer machte. Sein Bestes geben. Die Zähne zusammenbeißen, sich der Sache unterordnen. Wagenbach gab sein Bestes. Immer. Auch wenn er nicht davon überzeugt war, dass ein Weiterleben für bestimmte Kreaturen von Vorteil war, hatte er doch den Eid geschworen. Er ließ sie am Leben. Die Verkrüppelten, die Siechen, die Hundertjährigen, die Komatösen, die Debilen, denn mitunter ist das Weiterleben die größere Strafe.
Er wusste, theoretisch, dass er Menschen früher geliebt hatte und sie retten wollte. Er war zu Beginn seiner Karriere in den Ferien in die Dritte Welt gereist, hatte Hasenscharten operiert, Beine amputiert, Tellerminenopfer behandelt, er hatte in Slums praktiziert, seine Hände hatten voller Liebe auf Kinderköpfen geruht, und nachts in seinen erbärmlichen Unterkünften zwischen Kakerlaken hatte er geweint, weil die Welt ein so ungerechter Ort war. Das hatte sich verloren. Das Weinen, aber auch das Mitgefühl. Nachdem er die Bedürftigen zusammengeflickt hatte, zogen sie auf ihren schlechtsitzenden Prothesen wieder los und brachten einander um. Die Frauen mit den Kindern, die Armen mit ihren aufgeblähten Bäuchen trennten die Klitoris ihrer Töchter mit Scherben ab.
Manchmal, wenn er, nur mit seiner Vogelmaske bekleidet, zitternd vor dem Ankleidezimmerspiegel stand, für Sekunden klar, wusste er, dass er sich auf dem Weg in die Geisteskrankheit befand. Er konnte nicht mehr zwischen Gott und seinem Glied unterscheiden.
Er hatte den Zwitter operiert. Seine ehemalige Chefin, Frau Professor, hatte sich dummerweise vorzeitig aus dem Operationssaal entfernt. Sie war sehr um den Zwitter besorgt gewesen. Doktor Wagenbach hatte die Operation allein beendet. Der Zwitter würde noch lange leben. Aber angenehm würde das für ihn nicht.
Und weiter.
Keine sichtbare Veränderung war auszumachen, kein Denkmal des Menschseins war da errichtet worden, und dennoch rückte sich für Toto ein Möbelstück an den optimalen Platz, eine Schablone legte sich deckungsgleich über die Vorlage, die Temperatur war die perfekte, an diesem ersten Tag als Frau.
Da war kein starkes Verlangen, pinke Hüte zu tragen oder Lidstriche, all diese Dekorationsstatements dienten nur der äußeren Manifestation innerer Unklarheit. Da wusste doch keiner klar, was das sein soll, dieses Mann oder Frau, was soll das denn sein, außer seltsamen Blicken des Vaters, wenn der Junge Mutters Röcke tragen wollte. Was soll das sein, außer Fundamentalismus.
Toto war sie. Sie, Frau Toto, den Namen behielt sie, das Geschlecht im Pass auch, es war egal. Es fühlte sich einfach besser an auf der weiblichen Seite, vielleicht nur, weil die männlichen Stereotype so langweilig waren. Nichts würde doch an ihrem seltsamen Aussehen etwas ändern, das wusste sie selber, man würde sie weiter anstarren, aber das war egal. Irgendeinen Platz am Rande der Gesellschaft, bei den Freaks, würde sie schon finden. Dort war ihr wohl, bei all denen, die auch keine Idee hatten, aber es anders wollten. Friedlicher, toleranter, irgendwas mit Einhörnern wollten sie, und dass jeder den anderen in Ruhe ließ. Da, wo die Freaks wachsen, die sich nicht verkleiden wollen, nicht in gelernten Sätzen redeten, die sich nicht verkaufen wollten für alberne Mittelklassewagen, bei den Freaks, die Kinder bleiben wollen, eine Kunst machen, die keiner braucht, bei denen wäre ein Platz für sie, sie musste ihn nur finden.
Toto wollte nicht mehr auf Bettgestellen in Hinterzimmern chinesischer Restaurants liegen oder in Hauseingängen. Sie wollte eine eigene Badewanne und einen Balkon, auf dem sie mit Kaffee sitzen konnte, und vielleicht einen Menschen, an den sie sich gewöhnen konnte, weil er sich an sie gewöhnt hatte.
Hier war er vermutlich nicht, aber Toto hatte geglaubt, irgendwo mit der Suche beginnen zu müssen, aber hier, das konnte doch nicht ihr Platz sein, mit Sisal am Boden, auf dem Bett ein vermutlich in Lima gefertigter Quilt, thailändische Elefantenstoffe an den Wänden und ein chinesischer Sonnenschirm. Eine Duftlampe flackerte, Ylang-Ylang verdunstete stimmungsvoll. Philohomophobe beharren auf dem vortrefflichen Geschmack der Schwulen. Man sollte sie in Gruppen durch diese Wohnung
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