Vielen Dank für das Leben
unscharf wurde, und versuchte sich vorzustellen, dass er ein Baby war. Ein hilfloses, kleines, unterernährtes Baby, das in einer Pfütze sitzt. Nein, auf einem Müllhaufen, und sein bester Freud, der Müllhaufen-Geier, ist tot. Es funktionierte nicht. Toto stand auf, vorsichtig, ohne Peter zu wecken, und zog sich die üblichen weiten schwarzen Dinge an, die Haare, dicht und dunkel, reichten zu den Schultern, der Bauch war kaum mehr vorhanden, das Gewicht mit achtundachtzig Kilo noch ein wenig über dem, was Toto sich unter dem Körperbau eines vollschlanken Menschen mittleren Alters vorstellte.
Und weiter.
Toto fand sich nach dem Verlassen ihres ersten Sexualpartners in einem unbekannten Stadtteil. Lange Zeilen roter Backsteinwohnblocks am Rande sechsspuriger Straßen. Die Stadt lag unter ihrem Feuchtigkeitsfilm, die Temperatur erreichte den jährlichen Durchschnitt von vierzehn Grad, auf dem Bürgersteig ließen Werbeplakate mit lachenden Modellen in gestreiften T-Shirts Passanten stolpern. In den Wohnungen erwachten Menschen, man hörte das Pfeifen von Wasserkesseln, das Läuten von Weckern. Es war jedem hier zu wünschen, dass er nicht von Größerem träumte.
Toto wartete vor dem Sozialamt, allein, denn so früh will doch keiner sein eigenes Elend demonstriert bekommen, die verwaschene Sozialarbeiterin drückte mit einem so unendlich müden Ausdruck Stempel auf diverse Unterlagen, dass Totos Knie vor Anteilnahme auch recht schwer wurden.
Sie besaß nun ein eigenes Konto, auf dem sich ein wenig Krankengeld befand, und eine halbe Fahrstunde mit der Bahn später betrat Toto die dunkelste Wohnung, die seit der Inbesitznahme von Höhlen durch Menschen existierte. Ihr Zimmer hatte die Nummer 7, ein wunderbares Omen, das sich im Inneren erfüllte: ein Klappbett, ein Schrank, ein Tisch. Fertig. Einen Stuhl gab es nicht, wozu auch, Stühle werden überbewertet. Zehn Zimmer gingen von einem langen dunklen Flur ab, und eine Gemeinschaftsküche, wo auf verschiedenen Feuerstellen diverse Reis-Knochen-Gerichte zubereitet wurden. Frauen aus Eritrea mit kleinen Kindern, russische Prostituierte, Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern, in denen es noch viel schrecklicher sein musste als hier, wo es doch keine Bedrohung des Lebens gab, und Essen, und Wände. Toto war immer wieder erstaunt über die Angst, die die Menschen im kapitalistischen Teil des Landes beherrschte. Sie war den Osten gewohnt. Zerfallene Gebäude, Alkoholiker, Kälte und das Abhandensein einer prachtvollen Zukunftsaussicht hatten sie trainiert. Das Fenster blickte in einen Schacht, in dem einige depressive Tauben hockten. Lichtmangel, Sie verstehen.
Das Leben, dieser interessante biologische Umstand, hatte kein Mitleid, kein Gefühl, keinen überbordenden Sinn für Gerechtigkeit, und niemand schuldete einem das Geringste. Wenn es um irgendetwas gehen konnte, dann nur, dass man alles so elegant wie möglich annahm, alles, was passiert, was einem durch die anderen geschieht, dass man es mit einem Lächeln verstaut, abtut, sich schüttelt. Und weitermacht. Es war ja nur für den Übergang. Dieser Blödsinn, den Menschen sich einreden. Dieses rührende: Es ist nur für den Moment. Alles ist nur für den Moment, und darum muss man das, was einen stört, schnell ändern. Morgen würde Toto sich eine Ausbildung suchen. Mitte dreißig ist dafür ein sehr guter Zeitpunkt. Toto saß kichernd auf dem Klappbett, sah sich von oben kichernd auf einem Klappbett in einem Sozialfürsorgezimmer, das Badezimmer nebenan war ständig von urinierenden Eritreern besetzt, die in die Toilette spuckten. So oft hatte Toto noch nie eine Wasserspülung arbeiten hören. Babys weinten, Toto lag auf ihrem Klappbett, die Beine hingen ein Stück über die Kante, der Mond war nicht zu sehen im Schacht, und Toto war froh, dass sie nicht aus Eritrea kam oder aus dem Sudan, als es an der Tür klingelte. Toto hörte eine ihr bekannte aufgeregte Stimme, die alte Frau schimpfte, kurz darauf lag Peter schluchzend vor dem Klappbett. Und Toto wurde hilflos. Bevor sie die Pension verließ, verteilte sie ihr Geld an die Frauen in der Küche, die sich unbeeindruckt zeigten.
Und weiter.
Das Kind war tot. Natürlich war es tot.
Toto war jeden Tag im Krankenhaus gewesen, hatte das Kind besucht und ihm beim Verschwinden zugesehen, und als es starb, war ein Freund bei ihm gewesen. Ich glaube, ich sterbe jetzt, hatte das Kind gesagt, und durch den Druck seiner Hand die große Angst gezeigt, die man
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