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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Bescheid. Mein Vater war der erste, der kurz aufschluchzte. Jemand hatte meine Mutter angerufen, der bereits erwachsen gewesen ist, als sie noch ein Kind war. Es gibt sonst niemanden mehr aus dieser Generation.
    Dina war tatsächlich eine Nachbarin meiner Mutter gewesen, dreizehn Jahre älter als Swetotschka. Sie erinnerte sich an alle Mitglieder unserer Familie und an andere Nachbarn aus dem Vorkriegshaus.
    Nach dem langen Aufzählen sagte sie, Danke, Swetotschka.
    Wofür?, fragte Swetotschka.
    Und Dina bedankte sich siebzig Jahre später dafür, dass meine Großmutter Rosa, damals Direktorin der Taubstummenschule, ihr, als sie Arbeit suchte, die eigenen Schüler anvertraute. Daraus wurde der Beruf ihres Lebens, nach dem Krieg wurde Dina Gehörlosenpädagogin, wie später auch ihre Tochter, sie unterrichteten zuerst in Dagestan, dann in Israel, und auch die Kinder ihrer Tochter wurden Gehörlosenpädagogen und Logopäden, ebenso einige der Enkelkinder. Wegen euch, Swetotschka.
    Dann sagte Dina, dass sie sich an den Tod meines Urgroßvaters Ozjel Krzewin 1939 erinnere. Ich habe gehört, wie er auf den Boden fiel, und bin nach oben gerannt, das war im Herbst. Ich war vier Jahre alt, sagte meine Mutter, und ich weiß noch, alle Erwachsenen waren verblüfft, weil ich gesagt habe, Lasst ihn, er ist müde. Und Dina sagte, stimmt, das hast du gesagt!

Kapitel 3
Mein schönes Polen
    Polscha
    I carried my chalise through the mobs of foes
    James Joyce
     
    Als ich in Kiew aufwuchs, war Polen, unser nächster Nachbar, auf Russisch Polscha, unsere Nachbarin, ein unerreichbares, schönes Ausland. Dort lebten anmutige Frauen, die Männer hatten Manieren, man glaubte dort an Gott, trotz oder dank des Kommunismus, vielleicht auch schon immer, und alle gingen in die himmelhoch gereckten gotischen Kirchen. In Polen gab es sogar Kaugummi zu kaufen.
    Oft verkündete ich ohne Anlass, dass meine Großmutter Rosa, Rosalia, in Warschau geboren wurde, als stecke in dieser Nachricht ein gewisser Eigensinn. Ich war stolz darauf, dass meine Großmutter aus Polen stammte, es war ein Trumpf in einem Spiel, das niemand mit mir spielte. Einige in meiner Klasse trugen auffällig polnische Namen wie Studzinski oder Schtschegelskaja, wir waren aber sowjetische Kinder, alle gleich, mit dem gleichen Nebel in der Familiengeschichte, der vielleicht gerade die Voraussetzung für unsere Gleichheit bildete. Ich war stolz, als hätte ich selbst einen Hauch von polnischer Anmut, Manieren und Glauben, als hätte auch ich die Haltung der Fronde gehabt – oft erniedrigt, nie unterworfen, jeszcze Polska nie zginęła , noch ist Polen nicht verloren, und dies der Erkenntnis zum Trotz, dass ich nie dazugehören würde, dass damals, im Jahr 1905, als meine Großmutter zur Welt kam, dieser Teil Polens dem russischen Imperium unterstand
und meine Familie jüdisch war. In den sowjetischen Jahren meines Lebens habe ich meine polnische Trumpfkarte, die kozyrnaja karta, nie ausgespielt, aber aufbewahrt, bis sie mir in Warschau plötzlich wieder in die Hände fiel.
    Wenn ich neue Polen kennenlernte, pflegte ich mich zuerst für die drei Teilungen zu entschuldigen und dann dafür, dass die sowjetische Armee im Jahr 1944 am Ufer der Weichsel wartete, bis der Warschauer Aufstand niedergeschlagen war, ich entschuldigte mich bei den modernen Europa-Polen, die ich zu Gefangenen meines Gewissens machte, ich entschuldigte mich für Katyń und für den Kanal, weil ich davon wusste, aber nichts dagegen tun konnte, ich entschuldigte mich sogar für das Jahr 1981, als hätte ich damals mit elf, als Elfe, die Solidarność retten müssen. Denn wir waren schuld. Ich bekannte mich zum sowjetischen Imperium, im Bewusstsein seiner Errungenschaften, doch im Gleichschritt mit dem Leid, das wir anderen zugefügt hatten.
    Mein Vater war verliebt in dieses arme Polen, in die polnische Poesie und in den Klang der Sprache, in diese Polscha, die j eszcze nie zginęła. Sie war die weiblichste Erscheinung unserer sozialistischen Welt. Mein Vater las viele Bücher auf Polnisch, weil sie nicht ins Russische übersetzt waren, sogar Die Dubliners von James Joyce hatte er im verwandten Polnisch gelesen, selbst manche russischen Bücher, in der Originalsprache unzugänglich, lasen er und seiner Freunde auf Polnisch. Es gab etwas in seiner Liebe, was mich verwirrte. Mein Vater, ein Kriegskind, ein Angehöriger des auserwählten Volkes, das in seiner Stadt Kiew, vor allem aber in Polen, fast vollzählig

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