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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Kriegen üblich, Taubstumme für Spione gehalten? Wer nicht spricht, verheimlicht etwas.
     
    Wenige Stunden nach der Entlassung aus dem Gefängnis packte Ozjel die Koffer und verließ Warschau zusammen mit seiner Familie – seiner Frau Anna Levi-Krzewina und den drei Kindern Rosa, Ljolja und Arnold, neun, sechs und zwei Jahre alt, sowie zehn taubstummen Waisen seiner Schule und dem taubstummen Lehrer Abram Silberstein.
     
    Ozjel hatte einen Sohn aus erster Ehe, erzählte mir meine Mutter, Zygmunt muss 1915, als sein Vater nach Kiew auswanderte, etwa sechzehn Jahre alt gewesen sein. Er war in Polen geblieben. Fünfzehn Jahre später kam Zygmunt mit seiner Frau Helena, Hela, nach Kiew, um seinen Vater zu besuchen. Mein Großvater Wassilij, der Ehemann von Rosa, hatte mit der polnischen Helena geflirtet, mehr wusste meine Mutter über ihn nicht zu erzählen.
     
    Auf der Flucht vor dem Krieg kamen Hunderttausende Polen nach Kiew und machten Kiew für ein paar Jahre zu einer lebendigen polnischen Stadt. Ozjel gründete die erste Schule für Taubstumme, und als die meisten Flüchtlinge nach Warschau zurückkehrten, blieb er. Warschau hat er nie wieder betreten. Ozjel fing mit seinen zehn Warschauer Kindern an, sie lebten zusammen in einem Haus, wie immer.

     
    Auf diesem Foto sind sie alle zu sehen. Rechts steht Silberstein, der taubstumme Lehrer, der aus Warschau mitgekommen war, und vielleicht sind wir die einzigen, die noch wissen, dass es ihn gegeben hat. Er brachte sich 1916 um, wegen einer unerfüllbaren Liebe, er hatte sich in ein sprechendes Mädchen verliebt, sie wollten heiraten, doch ihre Eltern sagten nein.
     
    Während des Ersten Weltkriegs wuchs die Schule, aufgenommen wurden nicht nur Kinder, die von Geburt an
taubstumm waren. Im Bericht eines Besuchers las ich, dass Ozjel im Jahr 1919 am Stadtrand ein Mädchen fand, »Pogrom-Mädchen«, so heißt es dort, als wäre das ein ganz normaler Begriff. Ein großer Teil der taubstummen Waisen stammte aus Pogrom-Familien, hieß es in einem Artikel über Ozjels Schule, der 1924 in der Proletarskaja Prawda erschienen war, ohne weiteren Kommentar.

     
    Später zog das Waisenhaus in ein größeres Gebäude in der Bolschaja Shitomirskaja, damals noch Uliza Lwowskaja. Studenten, Pädagogen, Arbeiter und Wissenschaftler kamen aus Moskau und Leningrad, um die Schule zu besichtigen, manche aus Neugier, manche im Auftrag des Bildungsministeriums. Dank dieser Besucher wissen wir von der Atmosphäre, von der Hingabe der Lehrer, von den Fähigkeiten der Kinder und ihrem offenen Gemüt, als wären sie zum Leben erwacht. Die Gebärdensprache wurde zu jener Zeit offiziell nicht mehr unterstützt, doch meine Verwandten beherrschten sie noch. Sie beschäftigten taub
stumme Lehrer, ältere Schüler wurden im Unterricht für die jüngeren eingesetzt.
    Mitten in der Stadt hielten die Kinder Hühner, Kaninchen, Ziegen, ein fuchsrotes Pferd und Kühe. Außerdem gab es einen Pfau – ein Pfau in einer sowjetischen Schule, ein göttliches Wesen, das zu keiner Klassentheorie passte, wie die Schule selbst. Der Pfau war schön, Schönheit war so wichtig wie Können, und die tauben Kinder genossen die Schönheit der hundert Augen in einer Weise, die wir nicht kennen, sie sahen sein schillerndes Rad, das den Horizont verdeckte, seinen verstörenden Schrei hörten sie nicht. Sie lernten nützliche Dinge, sie nähten für sich selbst, produzierten Schuhe für andere Waisenhäuser, banden Bücher und Mappen für private und staatliche Kunden und nahmen dabei die Schönheit der Welt in sich auf, sie spielten Pantomime und spazierten durch die Stadt, kneteten und schufen Skulpturen, und sie gingen in die Oper, denn sie hörten zwar die Klänge nicht, doch vom Gesehenen waren sie so fasziniert, dass sie noch lange danach Bilder zu Gounods Faust malten, sie malten auch Porträts von Karl Marx und seinen Nachfolgern, so jedenfalls hieß es in einem Bericht. Die ganze Familie arbeitete mit, Ozjels Frau, Anna Levi, und ihr jüngster Sohn Arnold, ihre älteste Tochter Rosa, meine Großmutter, hatte mit sechzehn Jahren angefangen, in der Schule zu arbeiten, und vielleicht war sie mit ihrer Opernbegeisterung diejenige gewesen, die die Kinder ins Ballett und in die Oper ausführte und danach mit ihnen tanzte und malte. An Karl Marx und seine Nachfolger schien auch sie zu glauben. Nicht mit den Ohren, mit dem Herzen hören wir Lenins Ruf zum Kommunismus , hieß es auf einem Plakat in der

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