Vielleicht Esther
ermordet worden war, trauerte großherzig um Polen – der Kanal, der War
schauer Aufstand, die polnischen Teilungen, Katyń. Die polnische Tragödie schmerzte ihn, als dürfe er das Eigene nur im Schmerz der anderen erkennen, in einer Art Übersetzung. Den Gram zu hegen, den er in sich trug, wäre ihm unanständig vorgekommen. Viele seiner Kiewer Freunde, die sich in den fünfziger, sechziger und späteren Jahren von Polen angezogen fühlten, waren jüdischer Herkunft, sie wussten über alles Bescheid, was in Polen passierte, auch über die Nachkriegszeit und den Umgang mit Überlebenden. Sie haben es den Polen niemals übel genommen, denn sie hatten das andere Polen im Herzen, und als ich meinen Vater fragte, wie es möglich sei, dass sie Polen so hingebungsvoll liebten, wenn Polen sie nicht liebte, sagte er, Liebe muss nicht erwidert werden.
Ozjels Asyl
Ozjel Krzewin, der Vater meiner Großmutter Rosa, war Lehrer, Direktor eines kleinen Internats für taubstumme Kinder in Warschau, die meisten der Kinder waren Waisen, ich kannte die Adresse des Hauses, wo die Familie vor dem Ersten Weltkrieg gelebt hatte und wo Rosa und ihre beiden Geschwister zur Welt gekommen waren. Sie lebten zusammen, die Familie und die Waisenkinder, und ich stellte mir einen bescheidenen, aber fröhlichen Haushalt vor, die mühevolle tägliche Arbeit. Das war kein Beruf, sondern eine familienweite Obsession: Ozjels sechs Geschwister hatten ebenfalls Schulen für taubstumme Kinder gegründet, in Ungarn, Frankreich und Österreich. Doch
schon meine Eltern konnten über niemanden von ihnen mehr genauere Auskunft geben. Auf der Suche nach Ozjel reiste ich von Berlin geradeaus nach Osten, ins Warschau der Vorkriegsantike.
Ozjel wurde hundert Jahre vor mir in Wien geboren, im Jahr 1870. Auch darauf war ich stolz, wir – aus Wien. Wie durch ein Wunder hat bei uns zu Hause ein sowjetisches Arbeitsbuch meines Urgroßvaters überdauert sowie eine biographische Notiz, wonach er Lehrer für Taubstumme in Koło-Kalisz-Limanowa-Warschau-Kiew gewesen war. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er dessen Schule in Warschau. Er hieß Ozjel, aber ich hörte Asil oder Asilij, denn im Russischen wird ein unbetontes O als A ausgesprochen. Zuerst dachte ich, der Name komme von Asalijen, vielleicht weil meine Großmutter mit vollem Namen Rosalija Asilijewna hieß, manche sagten Rosalija Asalijewna. Als ich älter wurde, dachte ich über diesen seltsam klingenden Urgroßvater nach, seinen Namen, der mir zugleich Herkunft und Herberge bot, Asilij, und sein Asyl, das Schutz gab, ein Ort der Zurückgezogenheit und der Sicherheit, Obdach für alle. Ich stammte von einem Menschen ab, der sich um die Verlassensten kümmerte. Die taubstummen Waisenkinder waren die wichtigsten Bewohner von Asilijs Asyl. Es gab Eltern, die ihre Kinder aus Kraków, Vilnius und Kiew nach Warschau in Ozjels Schule schickten.
Wir haben es auf keinem Fall erwartet, dass unsere Tochter nach 3 Monaten schon schwierige russische und jüdische Worte schreiben und sprechen wird. Sogar einen Brief schreiben! Wir wenden uns an alle unglücklichen Eltern, Brüder
im Unglück, wir fühlen mit Euch. Schickt, Brüder, Eure armen taubstummen Kinder zum hervorragendsten Lehrer. Die Adresse ist: O. Krzewin – Warszawa – Ciepła.
Er galt als Heiler, obwohl er nur Lehrer war. Die jiddischen Zeitungen schrieben über Ozjel und seine kleine Schule auf der Ulica Ciepła und druckten Dankesbriefe ab. In diesen Briefen hört man die Stimmen von übermüdeten Eltern, unbeholfenes Glück strömt aus der gebrochenen Syntax.
Die Feder ist nicht fähig, das zu schreiben, was ich fühle. Egal wie lange ich Ihnen danken würde, wäre es nichtig im Vergleich dazu, was Sie getan haben. Ich kann auf dem Papier nicht meinen Jubel aufschreiben: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Sohn schon so bald schreiben und sprechen wird! Ich habe in Ihrer Schule Taubstumme gesehen, die so
zu sprechen angefangen, dass man nicht erkennen konnte, dass sie Taubstumme waren. Ich habe vor Freude geweint, als mein Kind mit mir zu sprechen anfing. Ich wünsche, dass Gott Ihnen helfen möge, damit Sie immer Glück haben werden.
Der Brief stammt aus Kiew, im Mai 1914. Dann kam der Krieg, und 1915 wurden Ozjel und seine Schwester Maria wegen Spionage für Österreich angeklagt und ins Sedlecka-Gefängnis gebracht. Wurde ihnen vorgeworfen, junge Männer vor dem Militärdienst zu verstecken? Oder wurden, wie in
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