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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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Vater und Kevin inzwischen zusammen bestatten lassen und kümmerte sich um den Verkauf des Hauses. Es lag nur noch eine geringe Last darauf, so dass für ihn und mich etwas übrig bleiben würde. Keiner von uns wollte das Haus übernehmen.
Melissas Schwangerschaft verlief nicht glücklich. Da wir alle gerade empfänglich für Katastrophen waren, erlitt sie in der 10. Woche eine Fehlgeburt. Das ist nicht selten bei Frauen über 30. Doch sie verlor gleich zwei Kinder gleichzeitig, was sie depressiv machte. Davids Leben entglitt ihm, und er griff zur Flasche. Da nützte ihm sein ganzer Reichtum nichts. Wir waren es nicht gewöhnt, mit Tragödien wie diesen umzugehen. Als unsere Mutter verstarb, hielt Vater die Stellung. Doch diesmal hielt niemand mehr des Anderen Stellung. So schnell kann eine Familie zerstört werden.
Da ich kein Familienmitglied mehr hatte, das sich weiter um mich kümmern konnte, holte mich Jenny vom Krankenhaus ab und brachte mich in meine Wohnung. David hatte sich zwischenzeitlich um meine Lohnfortzahlung und Miete gekümmert, so dass ich keine Schwierigkeiten bekam. David ist ein großartiger Bruder, trotz des Alkoholproblems.
    Als ich nach acht Wochen erstmals wieder meine Wohnung betrat, war es wie ein Déjà-vu. Ich sah auf das Telefon, das gleich klingeln würde. Es würde mein Vater sein, der sich zunächst nach mir erkundigen würde, ehe er mir den Tod von Kevin mitteilen würde. Ich setzte mich neben das Telefon in meinen Sessel und wartete. Es klingelte nicht. Ich sah mich um. Plötzlich war mir alles fremd. Meine Wahrnehmung hatte etwas gelitten. Man sagte mir, das käme von den Hirnblutungen, würde sich mit der Zeit aber geben. Was hieß mit der Zeit ? Wochen, Monate, Jahre? Konnte ich meinen Beruf je wieder ausüben?
Jenny hatte einen kleinen Willkommensgruß auf den Wohnzimmertisch gestellt: Blumen, Cola und Pizza. Er sah sehr hübsch aus, aber ich verspürte weder Hunger noch Durst.
Wie aus heiterem Himmel fragte ich: „Wie geht’s Chris?“ So, als hätte ich Josh morgens vor mir.
Jenny sah mich erstaunt an und fragte: „Wie bitte?“
War sie taub? Ich wiederholte meine Frage aggressiv: „Wie geht’s Chris?“
„Okay“, sagte sie und schmiss meine Reisetasche voller Jogginghosen und Unterhosen auf den Boden. „Du willst Stress? Dann bekommst du ihn.“
Was war geschehen? Noch nie hatte ich Jenny so außer Kontrolle erlebt. Seit ihrem Urlaub im Sommer hatte sie sich sehr verändert. Sie wirkte gereizt und überfordert.
„Was?“, fragte ich irritiert, aber zu laut. „Ich frag doch nur, wie es Chris geht.“
Sie lief in den Flur und holte ihre Tasche. Sie öffnete sie hektisch und entnahm ihr ein schwarzes Buch. Chris' Buch! Daran konnte ich mich sofort erinnern. Chris hatte seine Geburt aufgeschrieben. Anstatt sich über das gelungene Projekt zu freuen, wirkte Jenny zerstreut und aggressiv. Sie sagte: „Hier! Nimm es! Wenn du neue Gehirnblutungen willst, dann lies es!“ Sie schmiss das Buch auf den Wohnzimmertisch vor mir, und ich erhob mich sofort, fühlte mich angegriffen.
„Du kannst es wohl kaum erwarten, Chris wiederzusehen!“, bemerkte sie scharf. Mit verschränkten Armen ging sie zum Fenster und sah hinaus.
Wie ein zerstrittenes Ehepaar standen wir in meinem Wohnzimmer und fochten um unseren Sohn. Ja, er war zu unserem Kind geworden. Ob wir wollten oder nicht.
Da meine Kondition noch sehr schlecht war, musste ich mich wieder setzen und fühlte mich restlos durcheinander. Sollte der erste Tag zu Hause nicht ein friedlicher sein? Was hatte Jenny so aus der Bahn geworfen? Was hatte mich damals im Heim so aus der Bahn geworfen?
Mir fiel ein, dass seit vier Wochen die Schule wieder begonnen hatte. War Jenny doch zu sensibel für die Aufgabe einer Lehrerin in einer Psychiatrie? Oder zu sensibel für diesen einen Schüler? War mein Tatendrang nicht auch in Resignation übergegangen?
Es war Zeit, dass wir redeten. Doch nicht am ersten Tag.
Ich starrte die Wand an. Ich starrte so lange, bis Jenny endlich ging. Was sollten wir auch gemeinsam dumm durch die Gegend starren?
Ich verspürte mit dem Knall der Haustüre eine große Leere in mir. Ich hatte Jenny nicht einmal dafür gedankt, dass sie mich Heim gebracht hatte.
Ich aß nichts, und ich schlief nicht. Ich starrte die ganze Nacht auf das schwarze Buch. Es rief öffne mich .
Ich öffnete es am nächsten Morgen und begann zu lesen:

Alles ist weiß. Egal wo ich gucke, alles ist weiß. Auch die Menschen um mich sind

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