Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
perfekte Studie werden konnte, da Chris nicht mehr mein Patient war. Vielleicht sollte ich noch mal darüber nachdenken.
Mein Tag verlief reibungslos. Brisco bat mich nicht zu sich, und Jenny erschien erst gar nicht in der Klinik. Beruhigend und verflucht zugleich.
Am nächsten Morgen fragte ich bei Dr. Brisco kurz nach, wann wir über den Therapieverlauf für Chris sprechen. Er antwortet mir: „Wir warten noch ein Weilchen. Chris entwickelt sich gerade bestens. Ich sage Ihnen Bescheid.“
Ich wollte ihm von der Geburt erzählen, beließ es aber dabei. Wenn mir Jenny nicht den Rücken stärkte, wäre es nutzlos. Es verwunderte mich nur, dass Brisco nicht weiter nach Chris' Flecken fragte, wo wir doch so eine interessante Theorie hatten. Doch am nächsten Tag war Pilburgs Beerdigung. Da war niemand auf den Stationen neugierig auf interessante Theorien.
*
Zwei weitere Wochen verliefen in geregelten Bahnen, und ich begann Chris immer öfter aus meinen Gedanken zu verlieren. Dr. Brisco verlangte weiterhin nicht nach mir, und Jenny hatte Urlaub, wie ich von Josh erfuhr.
Die Zeit erschien mir geradezu langweilig. Mit Henry hatte ich nicht mehr Kontakt aufgenommen, als vorgeschrieben war. Doch ich bemerkte, dass er einige Tage von der Station verschwunden war. Im Personalbuch stand: Übergabe an Dr. Hazelwood, voraussichtlich 4 Tage. Die Vorhaut-Geschichte. Die Operation war gut verlaufen, so laut einer kurzen Information von Annie, die alles peinlich genau überwachte.
Dann kam Henry wieder und verhielt sich unauffällig mir gegenüber.
Wir bekamen einen neuen Jungen auf die Station: Christian Moore. Als man ihn Chris rief, wurde ich wütend und bestand darauf, doch bitte bei Christian zu bleiben. Meine Ansage musste wohl sehr streng ausgefallen sein. Viele sahen mich seitdem ängstlich an. Daraufhin erklärte ich in der Gruppentherapiestunde, dass wir Verwechslungen mit Chris Gelton vorbeugen wollten. Auch, dass Christian nicht gebrandmarkt werden sollte. Eine Erklärung, die mehr meinem eigenen Schutze dienen sollte.
Jenny kam wieder aus dem Urlaub. Sie sah blass und mitgenommen aus, gar nicht erholt. Ich fragte sie, ob alles in Ordnung sei und sah, dass sie ein leicht lediertes Auge hatte. Es war blutunterlaufen. Ich dachte sofort an eine missglückte Laserbehandlung. Vielleicht war Jenny kurzsichtig und hatte den Urlaub wegen dieser Behandlung benutzt.
Sie wirkte plötzlich in sich zurückgezogen. Endlich gab sie klare Signale für unsere aussichtslose Beziehung. Ich sah eine große Tristheit auf mich zukommen: geregelte Arbeit, kein Gespräch mit Brisco, kein Chris, keine Jenny mehr. Überforderung wich der Unterforderung.
Es war Sommer. Die Vögel sangen, die Bäume grünten, nur ich verwelkte.
Tag für Tag rann dahin, ohne dass mich ein besonderes Ereignis aus dem Alltag holte. Meine Neugier auf Chris Geburt verblasste, auch mein Interesse an seine Zeilen in dem Buch.
Dr. Brisco signalisierte durch Freundlichkeit und Zurückhaltung, dass es keiner weiteren Gespräche bedurfte, was Chris Gelton betraf. Man hatte den Fall wohl komplett meinem Bereich entzogen. Und es funktionierte.
Jenny begegnete mir plötzlich wieder freundlich, aber mehr flüchtig als intensiv. Ihr Augenleiden war weg, dafür bekam sie ein ausgemerkeltes Aussehen. Sie wurde immer dünner.
Ich saß abends in meiner Küche und verzehrte ein Putensandwich. Dabei las ich gerne eine Klatschzeitschrift. Wenn man den ganzen Tag mit Berichten gequält wird, fällt es einem schwer, Fachberichte oder gar Bücher zu lesen. Ich las seit zwei Jahren kein Buch mehr. Viele ungelesene Werke stapelten sich bei mir. Irgendwann, dachte ich, hast du Zeit, das ganze Zeug mal durchzulesen. Irgendwann. Aber wann, wenn nicht jetzt? Ruhiger konnte es kaum werden. Doch ich fand keine Konzentration. In mir braute sich ein Gefühl zusammen, dass bald etwas Schlimmes passieren würde. Ich wusste nur nicht wann und wo.
Abend für Abend saß ich in meiner häuslichen Idylle und tat so, als wenn das Leben furchtbar aufregend wäre. An diesem Abend kam mir erstmals der Gedanke, dass Jennys krankes Aussehen vielleicht etwas mit Chris zu tun haben könnte. Ich wusste nicht, inwieweit sie über die Schule hinaus Kontakt zu ihm pflegte oder gar mit ihm arbeitete. Ich erinnerte mich, genauso ausgesehen zu haben, als ich Chris im Heim betreute.
Ich griff zum Telefonhörer und rief Jenny an. Ihr Anrufbeantworter lief. Ich dachte unweigerlich an Ben, dass er wahrscheinlich gerade mit
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