Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Chris?
Ben war, ohne einen Gruß zu hinterlassen, gegangen. Ich war wieder allein.
Was für eine berauschende Begrüßung nach monatelangem Krankenhausaufenthalt.
Ich spürte förmlich meinen Bartwuchs austreiben. Ich war zu dem Abbild einer jämmerlichen Kreatur geworden. Was musste Ben jetzt von mir denken? Gott, wie konnte sich Jenny nur so einen Loser angeln?
Jetzt hatte ich nicht nur Jenny verloren, sondern auch Ben, der mir vielleicht ein guter Freund gewesen wäre.
Ich sackte auf dem Sofa nieder und schlief wieder ein. Diesmal bis zum Abend. So tief war meine Erschöpfung gewesen.
Dann erst sah ich mich gewappnet, mich dem Buch erneut zu stellen.
Die gute Jenny hatte meinen Kühlschrank mit gesunden Dingen aufgefüllt, doch ich entschied mich für das abgelaufene Vanilleeis aus meinem früheren Leben. Dazu eine Tasse mit starkem Kaffee.
Ich stellte beides auf den Wohnzimmertisch und betrachtete das schwarze Buch. Weshalb hatte Chris das Buch plötzlich von hinten begonnen? Weil er ein Neues starten wollte und keins hatte? Diese Erklärung erschien mir am einfachsten.
Oder weil er das Ende schon niedergeschrieben hatte und bis zum Anfang eine schlüssige Geschichte ankoppeln wollte. Eine von zwei Seiten aufgerollte Lebensgeschichte, die sich in der Mitte, im Jetzt, treffen sollte? Das wäre phänomenal! Das wäre Wahnsinn! Das wäre Chris!
Ich schlug das Buch von hinten auf und sah sofort die veränderte Schrift.
Ich begann zu lesen:
Hallo Chris, mein Junge!
Wie geht es dir?
Ich hoffe, dass du dich nicht hast unterkriegen lassen, denn du bist ein guter Junge – mein Junge!
Du hast alles richtig gemacht. Du bist immer brav gewesen. Du hast immer das getan, was die anderen wollten. Das hast du gut gemacht!
Jetzt bist du schon ein richtig junger Mann. Es wird Zeit, dass ich dir etwas über das Leben schreibe.
Ich weiß, dass du sehr klug in der Schule bist, aber im Leben brauchst du noch viel Hilfe.
Regel Nummer 1:
Sage den anderen immer die Wahrheit. Verpacke sie nur geschickt, denn die wirkliche Wahrheit wird dir immer Ärger bringen. Sobald du versuchst, den anderen die reine Wahrheit über dich und deine Gefühle zu sagen, werden sie deine Wahrheit verdrehen und dir viel Schwierigkeiten verursachen.
Regel Nummer 2:
Tu immer das, was die anderen von dir erwarten. Dann werden sie nie merken, was du wirklich tust. Das, was du wirklich tun willst, tue heimlich, denn die anderen werden es nicht verstehen. Und, es wird dir umso mehr Spaß machen, die anderen zu täuschen und um den Finger zu wickeln. Das ist ein Hochgenuss, sag ich dir!
Regel Nummer 3:
Sei immer fröhlich, höflich und freundlich. Auch das beherrschst du schon sehr gut. Unter dem Deckmantel von Fröhlichkeit, Höflichkeit und Freundlichkeit kann man sich richtig gut verstecken. Du hast ja schon selbst gemerkt, dass wenn du unfreundlich wirst, schreist und schlägst, du eine Menge Ärger bekommst. Also tu auch dies heimlich, dort wo dich keiner belangen kann.
Mit Freundlichkeit und Höflichkeit kannst du viele Menschen erreichen, die dir helfen, böse Dinge zu tun. Du wirst sehen, du wirst verstehen.
Regel Nummer 4:
Sei immer sauber und gepflegt. Umso weniger vermutet man von dir, wie sehr dir schmutzige Dinge Freude machen. Reinlichkeit ist gut für den Geist. Also merke: nach jeder schmutzigen Sache gut duschen und frische Sachen anziehen.
Regel Nummer 5:
Lerne, gut gewählte Worte zu nutzen. Dann kannst du jeder Wahrheit eine andere Wahrheit geben. Ich gebe dir ein Beispiel:
Wenn dich einer fragt: Hat dir das Essen geschmeckt? Und die Wahrheit wäre: Pfui Teufel, es war ekelhaft! So kannst du sagen: Danke, ich konnte es sehr gut verdauen.
Du verstehst, was ich meine. Du musst immer einen Weg finden, die Dinge so zu erklären, dass die anderen die gewünschte Antwort bekommen. Das macht dich überall beliebt. Du wirst viele Freunde finden.
Regel Nummer 6:
Lebe deine ehrliche Seite aus, sonst wirst du eines Tages platzen. So, wie ich. Ich bin Amok gelaufen und wurde eingesperrt. Nur, weil ich meine böse Seite unterdrückt habe. Danach hatte ich viele Probleme, wieder aus der Anstalt wegzukommen. Und es wurde nie mehr alles gut. Du weißt, dass ich daran gestorben bin. Also, pass gut auf dich auf und sei klug. Du wirst immer eine Möglichkeit und einen Ort finden, deine böse Seite auszuleben. Doch erzähle niemanden davon.
Regel Nummer 7:
Unterdrücke niemals deine Freude, deine Lust und deine Triebe, denn es
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