Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
zustoßen würde? Oder war es der Entwurf einer ersten Dokumentation für Dr. Brisco, die zunächst nicht aktenkundig werden sollte?
Ich konnte meine Gedanken nicht sortieren, so verwirrt war ich.
Dann stellte ich fest, dass nach einigen Leerseiten wieder etwas geschrieben war. Ich las:
Du stehst im Nichts. Du bist vollkommen nackt. Du bist rein. Reines Blut pulsiert in dir. Reines Wasser beträufelt deinen Körper.
Eine warme Hand berührt deinen Kopf.
Ein dunkle Stimme spricht zu dir und erteilt dir deinen Segen.
Du atmest, du pulsierst, du wächst über dich hinaus und lebst die 10 Regeln deines Lebens. Dir wird nichts geschehen.
Damit hörten alle Niederschriften in dem Buch auf. Ich konnte nichts weiteres finden. Ich starrte auf die vielen leeren Seiten, die noch von Chris beschrieben worden wären, wenn Jenny das Buch nicht eingezogen hätte.
Mir kam eine Idee. Ich schmiss das Buch auf den Tisch, holte Blatt und Stift und schrieb wie von Sinnen:
1. Sag den anderen immer die Wahrheit
2. Tu immer das, was die anderen von die erwarten
3. Sei immer fröhlich, höflich und freundlich
4. Sei immer sauber und gepflegt
5. Lerne, gute Worte zu nutzen
6. Lebe deine ehrliche Seite aus
7. Unterdrücke niemals deine Freude
8. Wenn du jemanden liebst, dann halte ihn fest
9. Lass dich nicht verhindern
10. Beherrsche alle 9 Regeln, damit du in Freiheit leben kannst
So die zusammengefasste Version. Täuschung oder Missverständnis? Was sollte ich davon halten?
Eines der wichtigsten Kriterien, die hier zu erwähnen seien, wären, dass diese Niederschrift in einer völlig anderen Handschrift war, als die, die ich von Chris bisher kannte. Diese hier hatte völlig andere Merkmale. Auch wenn er die Kunstschrift hervorragend beherrschte, so schrieb er meiner Meinung nach recht chaotisch.
Diese Handschrift war eindeutig nicht von Chris, nicht von der Persönlichkeit, die wir kannten. Diese Handschrift war von jemand anderem, aber von seiner Hand ausgeführt.
Mir kam ein interessanter Gedanke: Ich musste herausfinden, wie die Handschrift von Chris‘ Vater Dane Gelton ausgesehen hatte. Wo konnte ich sie finden? Hatte Dr. Brisco nicht die Unterlagen von Gelton? Vielleicht den Kaufvertrag seines einstigen Restaurants, das Running Horse. Der Ausweis, Briefe an Sarah, die Heiratsurkunde. Überall hatte er seine Handschrift hinterlassen.
Ich brauchte so viele handgeschriebene Wörter wie möglich von ihm.
Ich glühte! Ich war wie von Sinnen!
Das erklärte Jennys schlechtes Aussehen, das erklärte auch ihre Wut auf den Jungen. Dabei hatte sie so recht gehabt: Chris bereitet eine Geburt vor. Und ich war nicht dabei gewesen. Ich lag derweil im Koma. Vielleicht wäre ich besser an das Buch gekommen, als sie.
Was war in der Zeit, in der ich im Koma gelegen hatte, vorgefallen?
Fragen über Fragen, die mich quälten.
Ich stand auf und holte ein Glas Wasser in der Küche. An meinem Kühlschrank hingen noch alle Merkzettel vom Juni, als ich zu meinem Vater gefahren war.
Ich trat näher, um zu lesen, was mich derzeit alles beschäftigt hatte. Ein Arzttermin bei Dr. Calgoy zur alljährlichen Personaluntersuchung. Ein Augenarzttermin, Davids neue Adresse und ein Pizza-Rezept, das mir Jenny diktiert hatte. Ich las: 400g Mehl, ½ Tasse Öl, 1 Teel. Salz, 1 Teel. Zucker, 40g Hefe, ½ Tasse warmes Wasser. Cool! Ich hatte endlich ein richtiges Pizza-Rezept.
Ich las es noch einmal und erstarrte irgendwie dabei. Dann riss ich den Zettel vom Kühlschrank ab, schmiss das Glas Wasser in die Spüle, so dass es zerbrach und rannte ins Wohnzimmer. Ich griff nach dem Buch, schlug es auf, legte den Zettel daneben und verglich die Handschrift. Ich sah von rechts nach links und von links nach rechts und stellte fest, dass sie vollkommen identisch war! Ich brauchte nicht mehr nach Dane Geltons Handschrift zu forschen. Die Zeilen in dem Buch hatte eindeutig ICH geschrieben!
Ich fühlte, wie sich mein Körper auf das Sofa fallen ließ, mit dem Buch an meinem Herzen. Was hast du nur getan, mein Junge? Wie konntest du Jenny das Buch geben?
*
Wenn der Nachrichtensprecher nicht das Datum bei der Begrüßung gesagt hätte, hätte ich geglaubt, mindestens eine Woche geschlafen zu haben. Wieder klingelte das Telefon. Wieder lag ich verwahrlost auf dem Sofa und entschied, mein virtuelles Ich mit dem Anrufer plaudern zu lassen. „Hallo, hier ist Bob Koman. Kann nicht dran, sprich du“, hörte ich wieder. Dann: „Hallo Bob, hier ist David.“ Mein Bruder
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