Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
Vom Netzwerk:
klang müde. „Wollte mal nachfragen, wie du klarkommst.“
Klarkommen? Weshalb sollte ich nicht klarkommen? Ich saß hier, roch alten abgestandenen Kaffee, sah auf eine Lache flüssiges Eis und fror, weil das Fenster auf Kipp stand. Ich fühlte meine nachgewachsenen Bartstoppel, fuhr mir durchs zerwühlte, fettige Haar und hatte ekelhaften Mundgeruch. Klar, komme ich klar!
„Ruf mal zurück“, hörte ich David noch sagen. Dann piepte das Band. Ich sah mich um und konnte mich nicht sortieren. Was war geschehen? Wie lange hatte ich geschlafen?
Ich sah das Buch auf dem Sofa. Das Buch. Dann erinnerte ich mich. Wie soll ich das Gefühl beschreiben? Es ist, als wenn dir einer einen Ballon im Leib aufpustet und deine Organe immer weiter an den Rand presst. Daher sicherlich der Spruch: Ich fühle mich zum Bersten. Beklemmungen, Angst, Kontrollverlust, Panik und Zorn machten sich in mir breit. Eine unerträgliche Mischung wanderte von meinem Leib direkt hoch ins Gehirn. Sämtliche Synapsen schalteten auf stopp und blockierten die Zugänge und Kreuzungen. Stau entstand. Tausende von wütenden Gedanken begannen, wie wütende Autofahrer zu hupen.  Ein unerträgliches Durcheinander. Ich hatte den Eindruck, als würden meine Hirnanhangdrüsen anschwellen und meinen Hals versteifen. War ein Schlaganfall im Anmarsch? Ich bewegte meinen Mund. Der ließ sich links wie rechts problemlos steuern. Ich sprach den Worten des Nachrichtensprechers nach. Meine Worte kamen mir klar und deutlich über die Lippen. Ich griff nach dem Telefonhörer und drückte die Kurzwahltaste für David. „Ich kann nicht mehr!!“, schrie ich in den Hörer, ließ den Hörer fallen, rannte zum Klo und kotzte.
    *
    „Hallo?“, erreichte mich eine Stimme ganz weit entfernt. „Hallo? Können Sie mich hören, Bob?“
Ja, ich höre. Aber sagen konnte ich nichts. Wie damals, als ich zum ersten Mal aus dem Koma erwachte.
Ich hörte erneut die Stimme, wie sie sagte: „Machen Sie mal die Augen auf, Bob.“
Ich kämpfte, meine Augenlider zitterten. Dann endlich, nach langem Kampf, schlugen sie auf.
Ein fremder Mann sah mich an, so nah, dass ich zunächst nur seine Nase wahrnahm. Dann leuchtete er mir in die Augen, oben und unten, links und rechts.
„Eine Geburt?“, fragte ich.
„Sozusagen“, sagte der Arzt. „Jetzt sind Sie ja wieder da. Sie sind also wieder neu geboren.“
Erleichtert schloss ich wieder meine Augen.
Die Geburt war überstanden. Ich schlief ein.
    *
    David hatte sofort den Notruf angerufen, dann Jenny und Ben. Meine Haustüre war aufgebrochen worden. Sonst wären sie nicht zu mir hereingekommen.
Sie fanden mich neben der Toilette. Ich hatte meinen ersten Schlaganfall. Sie sagten, es wäre ein leichter, ohne Folgeschäden. Warum ich allerdings ohnmächtig geworden bin, konnte sich niemand erklären. Vielleicht Schwäche. Nichts getrunken, nichts gegessen. Zuviel Verwirrung im Kopf.
Gottseidank hatte ich David rechtzeitig angerufen. Kaum zwei Tage zu Hause, schon wieder im Krankenhaus. Ich glaubte es nicht.
David saß an meinem Bett und sah genauso aus wie gestern (oder vorgestern?) in meiner Wohnung. Eine Metamorphose hatte sein Gesicht in den letzten Monaten verändert. Er sah gar nicht mehr wie mein Bruder aus.
Was war nur aus uns geworden? Mein Bruder soff, und ich wurde bekloppt. Wir sahen uns an und mussten weinen – über uns, über unsere verlorene Familie, über unsere verlorene Zeit, unsere verlorene Gesundheit, verlorene Arbeit und verlorene Freunde. Alles hatten wir verloren. Wir teilten eine Depression durch zwei und hielten uns fest. Das war leichter, als sie alleine zu tragen.
Ich sah eine Bewegung hinter David, als wir uns in den Armen hielten. Jenny stand in der Tür. Ich winkte, sie solle auch noch zu uns kommen, drücken, umarmen, festhalten. Doch sie blieb lächelnd, mit Tränen in den Augen, im Türrahmen stehen.
Als David mich losließ, rannte er sofort aus dem Zimmer und ging sich woanders ausweinen. Seine Frau Melissa war ja auch nicht mehr bei ihm.
Jenny kam jetzt näher zu mir. In dem Moment erinnerte ich mich an Bens Worte: Lies das Buch nicht. Jenny nimmt jetzt Medikamente . Zeitgleich mit meinen Erinnerungen sagte Jenny: „Ich hätte dir das Buch nicht geben sollen.“
Jetzt bekam ich auch Medikamente. Ich nickte und sagte, etwas steif im Kiefer: „Warum beschäftigen wir uns eigentlich mit Chris?“
Sollte das doch Dr. Brisco übernehmen. Jenny nickte. „Weil er eine verunglückte Seele ist.“
Mein Vater sagte

Weitere Kostenlose Bücher