Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
geworden war? Weswegen er sich anschließend umgebracht hatte? Ich sah, wie meine Hände zitterten. Ich musste mich beruhigen. Unbedingt.
Da ich Chris mehrere Tage auf der Station nicht gesehen hatte, fragte ich nach, wo er sei. Genervt antwortete Hamond: „Er hat einen Heimplatz in Kansas bekommen. Dort darf er gerade eine Woche Probewohnen.“
Ich erstarrte! Chris in Freiheit? Das vernichtete sofort die Wirkung meines Medikaments und warf meine nächste Frage auf: „Wann tritt er den Heimplatz an?“
„Ende des Jahres. Wir müssen noch ein sechsmonatiges Gutachten erstellen, bevor er diesen Platz antreten darf. Dann bekommt er grünes Licht. Bis dahin wollen wir ihm mehrere Heime zum Kennenlernen anbieten.“
„So einfach?“, entfuhr es mir. „Und was ist mit seiner Geschichte vom letzten Heim?“
„Er ist ein Kind gewesen. Völlig verstört. Er hat nun klare Regeln und gute Tagesstrukturen gelernt, um bodenständig und gegenwärtig zu sein. Er hat Testergebnisse, die unser Handeln unterstützen.“
„Aber er hatte von mir voriges Jahr die Diagnose „psychotische Schizophrenie“ erhalten. Die löst sich nicht einfach auf.“
„Widerlegt“, sagte Hamond knapp.
„Widerlegt“, sagte ich tonlos. „Das heißt, in sechs Monaten ist Christopher Gelton draußen.“
Hamond sah mich an. „Das hört sich ja an, als würden wir einen Schwerverbrecher in die Freiheit entlassen.“
Was sollte ich darauf sagen? Das ist einer? Ich fragte mich derzeit öfters, wie lange es noch dauern würde, bis man mich einliefern würde. Doch das sagte ich lieber nicht. Stattdessen fragte ich: „Ist schon was wegen dem Loch herausgekommen? Ich meine, wie es in den Zaun kam?“
Hamond schüttelte den Kopf. Also noch ein Nebelverfahren.
Ich wollte nicht länger nachfragen und mich noch tiefer in die Situation hineinfressen. Viel mehr ängstige mich jetzt die Frage, wie lange es dauern würde, bis dass Chris Jenny und mich jagen würde. Dazu brauchte er kein Loch mehr in einem Zaun. Er konnte bald das unverschlossene Tor benutzen.
Ich beschloss erst einmal, um die Situation wieder zu deeskalieren, mich weiter auf meine Studie zu konzentrieren, die ich sträflich vernachlässigt hatte. Deswegen fragte ich fachkundig: „Wie fühlt sich Christopher denn derzeit?“
Wie immer in letzter Zeit hörte ich nur: „Tadellos.“
Seit diesem Tag hörte ich in meinen Träumen eine Bombe ticken. Es wurde zu einer Art dumpf klingendem Tinnitus in meinem Kopf.
*
Jenny packte. Es war soweit. Ich tat mich schwer, aber ich packte auch. Diesmal ging es nicht nach Utah ins Feriencamp, wie letztes Jahr. Dort wollte man von uns, und vor allen Dingen Chris, nichts mehr wissen. Es ging, oh wie edel, nach Aspen , mitten in die Rocky Mountains. Eine Ferienanlage in Ashcroft am Rande der Stadt sollte elf Patienten, zwei Pflegern, zwei Ärzten und einer pädagogischen Begleitkraft (Jenny) sieben tolle Tage bescheren. Mit mir fuhr Dr. Calhound von Station 2. Den kannte ich nur oberflächlich. Da es auf Gegenseitigkeit beruhte, war das sehr beruhigend für mich. Ich fühlte mich von ihm nicht unter Beobachtung oder Bevormundung.
Am Tag der Abreise sahen Chris und ich uns nach drei Wochen wieder das erste Mal. Es war wie ein Fluch. Wenn ich ihn nicht sah, dachte ich ständig an ihn. Sah ich ihn, fehlte mir jeder klare Gedanke.
Chris lächelte, als er mich sah und kam aufrechten Ganges und vollkommen kontrolliert mit seiner Reisetasche zum Bus. Ganz anders als die Jungs, die sich schreiend und laufend dem Bus näherten.
Chris wirkte wieder wie ein Praktikant vom Personal. Wenn ich daran denke, wie aufgeregt und kindlich er letztes Jahr noch gewesen war, als er mit Dr. Pilburg fuhr. Und vor allen Dingen, wie er ausgesehen hatte, als er wiederkam!
Dieser Auftritt jetzt hatte nichts mehr mit dem 12-jährigen Chris vom letzten Jahr zu tun. Ich dachte plötzlich an eine Schlange, die sich gehäutet hatte. Und je mehr Haut sie ablegte, umso schöner, aber auch gefährlicher wurde sie. Ein Schauspieler, der in sein Kostüm schlüpfte.
Ich versuchte, mit Jenny flüchtig über meine Gedanken gesprochen zu haben. Sie wehrte mich ab und sagte: „Chris ist in die Pubertät gekommen. Da ist jeder ein bisschen merkwürdig.“
Der Begriff merkwürdig war schon mal gut. Also empfand auch Jenny ihn nicht als normal.
Seitdem sie sich nicht mehr auf den Jungen einließ, ging es ihr viel besser. Die Arbeit in der Schule machte ihr auch wieder Spaß. Sie hatte zu ihrer
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