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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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Malen die Brennnesseln ins Gesicht. Und tatsächlich, die Gesichter wurden noch roter. Genau, wie ich geplant hatte. Ich wartete, ob vielleicht doch Blut fließen würde. Bluttriefende Monster waren doch mal was Besonderes. Mein Spiel würde das beste Spiel von allen werden. Das stand jetzt schon fest.
Ich sah in die roten Gesichter und wartete ganz gespannt. Dann gab's ein riesen Geschrei. Alle Roten kratzten sich im Gesicht und ich dachte, ja, jetzt geht's los. Henry brüllte und kratzte sich im Gesicht, bis es blutete. Ich war überwältigt. Mann, das hätte ich nicht gedacht. Alle Roten kratzten und kratzten. Ein großartiges Spiel. So echt. Ich ging zu Henry und klopfte ihm stolz auf die Schulter. Mann, dachte ich, der versteht seine Rolle. Dann schlug mich einer ins Gesicht. Klar, wenn man ein Brutaler ist, dann schlägt man. Vielleicht brauchte ich die Pillen gar nicht mehr. Ich schlug zurück, um das Spiel in Gang zu bringen. Es war doch nicht schlecht, heute schon mal zu üben. Wieder schlug mich einer. Ich schrie: „Aufhören!“, aber niemand beruhigte sich. Ich schrie nach Samuel. Dann schlug mich einer zu Boden. Samuel kam angerannt und schrie auch. Dann hörte ich nur noch Schreie. Ich lag auf dem Boden und hielt mir die Ohren zu. Einer trat mich in den Bauch. Ich hatte nicht erwartet, dass allen das Spiel so viel Spaß macht. Dann kann ich mich nicht mehr erinnern. Einer hat wohl meinen Kopf getreten.
Als ich meine Augen wieder aufkriegte, waren ein Polizeiwagen und ein Krankenwagen bei uns. Niemand schrie mehr. Ach, dachte ich, ich hatte die Polizei im Spiel vergessen. Die musste doch für Ordnung sorgen, wenn das Spiel aus den Fugen gerät. Gut, dass Samuel daran gedacht hatte.
Damit war mein Spiel perfekt. Und ich hatte nicht eine Pille gebraucht.
    Samuel war gerade bei mir. Er sagte, dass wir wieder nach Hause müssen. Schade, der Wettbewerb fand nicht statt. Ich war einfach zu gut. Ob ich noch die Extraportion Popcorn und die Siegerurkunde bekomme?
Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich Dr. Pilburg fragen.
Ich hoffe, der Urlaub hat ihm gut gefallen. Ich habe ihm wirklich viel Erholung verschafft.

 Ich ließ das Buch mit Chris' Aufzeichnungen aus meinen Händen gleiten und sah fassungslos zu Boden. Kindlicher Erfindungsreichtum oder eiskalte Berechnung? Nur allzu deutlich war die Freude an der Quälerei herauszulesen.
Mein Telefon ging. Jenny Keller war am Apparat. „Haben Sie Zeit?“, fragte sie kurz, ohne sich weiter zu äußern.
„Chris?“, fragte ich.
„Unter anderem“, sagte sie, und ich fuhr schleunigst zur Klinik, mit dem Buch unter dem Arm.
An der Pforte gab man mir direkt die Anweisung, zum Schulgebäude zu fahren. Ich sah schon von weitem in Jennys Klassenraum Licht brennen und viele Köpfe hin- und herlaufen. Großer Gott! Was war jetzt schon wieder passiert?
Meine Nerven lagen schon blank, ehe ich das Gebäude betrat.
Im Flur waren laue Diskussionen zu hören, und ich traute mich nicht, die Tür zum Klassenraum zu öffnen. Wie wilde Tiere würden alle über mich herfallen. Warum auch immer. Aber schließlich war ich derjenige, der diesen Chris Gelton in diese Klinik gelockt hatte.
Ich kannte diesen Jungen gerade mal ein Jahr, und schon befand ich mich am Ende meiner Karriere. Mit 26 Jahren die Erfolgsleiter emporgestiegen, mit 27 Jahren hinabgestürzt. Genickbruch. Sollte so meine Zukunft als erfolgreicher Kinder- und Jugendpsychologe aussehen? Was war aus meiner Motivation geworden, Kinderseelen zu heilen?
Mein Griff zu Chris' Buch wurde fester. Dieser Inhalt war eine Waffe. Und die hielt ich in den Händen. Ich griff gefasst zur Türklinke und öffnete den Klassenraum. Ich musste diese Runde, die mir bevorstand, irgendwie durchstehen, ohne zu Boden zu gehen. Wie sollte ich sonst weiter in meinem Beruf arbeiten? Schließlich war ich nicht alleine auf weiter Flur.
Als ich in den Klassenraum trat, sah ich schon auf den ersten Blick, dass ich sehr wohl allein auf weiter Flur war. 
Links saßen Eltern mit einem Anwalt, rechts saßen Jenny, einige Ärzte und zwei Pfleger. Am Pult stand Dr. Brisco und dirigierte den Tumult. Ein Spiel, dachte ich. Wie ein Erdenspiel. Chris hatte es geschafft, die ganze Klinik mit seinem Spielvirus zu infizieren. Links (Eltern und Anwalt) die roten Brutalen. Rechts (Jenny, Ärzte und Pfleger) die weißen Guten. Und vorne? Dr. Brisco. Ein böser Schwarzer? Mir war klar, dass ich in diesem Spiel wohl der Böse sein sollte, ging zu Dr. Brisco, redete

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