Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
kurz mit ihm und löste ihn ab. Er ging nach rechts, zu den Weißen. Lasst uns das Erdenspiel beginnen, dachte ich.
Ich legte das Buch von Chris auf das Pult und sah in die schweigende Menge, die mich erwartungsvoll ansah. Alle waren durch mein Erscheinen aufmerksam geworden. Das gab mir die Möglichkeit, ein paar Sätze an alle zu richten: „Guten Abend. Ich bin Dr. Bob Koman. Ich weiß zwar nicht, worum es im Moment geht, aber ich würde mich freuen, wenn zunächst nur Einer mich hier aufklärt.“
Genau in diesem Moment erhob sich von der linken Seite ein Mann. Ich sah in meiner Vorstellung sein blutrotes Gesicht und seine hässlichen Klauen, die nach mir griffen. Seine Stimme war ruhig, und ich holte mich in die Realität zurück.
„Mein Name ist Rod Kalinski. Ich bin Anwalt und vertrete die Eltern der Kinder, die vorgestern im Camp in Utah zu Schaden gekommen sind. Sie leben alle auf Ihrer Station und unterliegen Ihrer Aussichtspflicht.“
So war das also. Die Eltern hatten sich bereits einen Rechtsbeistand besorgt. Ich sagte: „Ich grüße Sie, Mr. Kalinski. Was kann ich für Sie tun?“
Kalinski räusperte sich und sah zu meinem Chef, Dr. Brisco, hinüber. „Elf Elternpaare“, und er zeigte auf die Menschen links und rechts neben ihm, „haben mich beauftragt, Rechtsschritte wegen unterlassener Aufsichtspflicht mit Folge von Körperverletzung gegen Sie einzuleiten. Die Kinder sind wegen psychischer Erkrankung Ihrer lückenlosen Aufsicht unterstellt. Es ist vorgestern zu erheblichen Verletzungen bei diesen Kindern gekommen. Ihre Gesichter sind durch gänzlich ungeeignete Farbe verätzt worden. Es ist zu schlimmen Hautreaktionen gekommen, deren Folgen wir derzeit noch nicht absehen können. Wir werden deswegen nähere Untersuchungen einleiten.“
Punkt. Ruhe.
Ich dachte kurz nach. Laut Chris‘ Aufzeichnungen konnten doch nur drei oder vier Kinder diese Verätzungen haben. Er hatte doch nur die Roten mir Brennnesseln eingerieben. Elf Kinder waren mitgefahren und wurden in drei Mannschaften eingeteilt. Oder hatte er etwa alle eingerieben und es absichtlich nicht vermerkt? Wusste hier überhaupt schon einer von den Pillen, die der Bursche verteilt hatte? Das wäre wohl der nächste Anklagepunkt. Ich sah zu Pilburg. Der war rot im Gesicht. Musste der mit dieser Gesichtsfarbe nicht auf der anderen Seite stehen? Ich hielt mich bedeckt. Dr. Brisco erhob sich. „Ja, es stimmt, dass es im Camp zu Verletzungen gekommen ist. Aber Dr. Koman war nicht dabei gewesen. Er war hier in der Klinik geblieben.“
Was sollte er auch sonst sagen?
Mein Chef redete weiter: „Wir sind alle sehr betroffen und werden zunächst alles Menschenmögliche tun, um die Verletzungen in den Gesichtern Ihrer Kinder zu mildern. Der Verursacher Chris Gelton ist bereits weggesperrt worden und wird eine entsprechende Behandlung und einen neuen Aufenthaltsort erhalten.“
Ich sah Dr. Brisco entrüstet an. Neuen Aufenthaltsort? Chris sollte weg?
Jeder normale Mensch wäre jetzt froh, so einen Knaben aus den Füßen zu haben, aber bei mir fühlte sich das an, als riss man mir einen Arm aus dem Leib. Ich mischte mich ein: „Chris ist erst zwölf!“
Alle sahen zu mir hin. „Und jetzt schon gefährlich“, sagte der Anwalt.
Mit Wehmut sah ich auf das Buch vor mir, worin alles wieder so schön erklärt war. Ich dachte an Jennys Worte: Wann überschreitet Chris die Grenze von kindlichem Unsinn hin zur Kriminalität. Jetzt, dachte ich. Jetzt ist es passiert.
Ich spürte, wie der Blick meines Chefs auf mir lastete, als sage er: sei ruhig, rede nicht weiter. Das bringt uns nur Ärger.
„Ja“, sagte ich, „Sir. Das war in der Tat gefährlich.“ Damit beschloss ich, nichts Weiteres an diesem Abend mehr zu sagen.
Eigentlich sagte niemand mehr etwas. Ich hörte noch ein undeutliches Gemurmel von Worten wie: „Wir werden alles schriftlich miteinander regeln. Zunächst werden wir den Fall Gelton recherchieren und ein unabhängiges Gutachten einfordern. Sie bekommen dann von uns Bescheid. Zu der Aufsichtspflichtverletzung hätte ich gerne eine Darstellung von der zuständigen Begleitperson in den nächsten Tagen in meinen Händen.“ Das waren alles Kalinskis Worte.
Dr. Brisco nickte, und die Eltern verließen mit ihrem Anwalt das Klassenzimmer.
Ich sah wieder mit Wehmut auf das Buch vor mir. Ich dachte auch an die Lebensgeschichte aus Chris' eigener Feder. Alles Material, das gegen den Jungen und nun auch gegen uns verwendet werden konnte. Regelrechter
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