Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
über Savonarola bis zu Calvin. Der Säkularismus ist in den USA schwach, die Bohemiens waren religionsskeptisch, die Hippies nicht mehr, sie deklinierten die evangelikalen Grundprinzipien mit der Elektrogitarre.
49 Ferguson 2011, S. 406.
2 Immer mehr Konsum
»Denn sie wissen nicht, was sie brauchen …«
Seinen letzten großen Triumph feierte der Konsum beim Fall der Mauer. Die Menschen hatten über den Sozialismus mit den Füßen abgestimmt und sich für die westliche Konsumgesellschaft entschieden. Der Kapitalismus hatte gewonnen. Aber auch die linke Konsumkritik bäumte sich noch mal auf. Unvergessen, wie der Grüne Otto Schily die DDR -Bürger mit einer Banane in der Hand verunglimpfte: Die Südfrucht stand für die hohlen Verlockungen des Konsumkapitalismus, dem die ahnungslosen Ostdeutschen auf den Leim gegangen waren, im Tausch gegen das unvollendete Projekt des Sozialismus. Es war ein trotziges Bekenntnis, nicht nur, weil Schily anschließend in seinen Porsche stieg – er war wohl selbst ein Opfer kapitalistischer Verlockungen. Sondern weil an der Tatsache nicht zu rütteln war, dass ganz Osteuropa die Warenvielfalt gewählt hatte. Seither hat die Euphorie nachgelassen, obwohl wir heute mehr Dinge besitzen als je zuvor. Noch nie wurden mehr Käsesorten, Schuhmodelle oder Badezimmerfliesen angeboten, und übers Internet werden täglich Unmengen an neuen Produkten gekauft. Es gibt kaum jemanden, der in Abrede stellen würde, dass die Güterfülle ein angenehmes Leben ermöglicht. 1 Wer will schon auf das Auto verzichten, um mal eben ein paar Tage an die Ostsee zu fahren, oder auf die Waschmaschine oder das Smartphone?
Luc Boltanski adelt die Konsumvielfalt geradezu, wenn er hervorhebt, dass viele Erfindungen mit Emanzipationschancen verbunden sind. Sie bedeuten einen Gewinn an Autonomie und Mobilität, erhöhen entweder Tempo und Möglichkeiten der Ortsveränderungen (Tourismus) oder sorgen für die Illusion eines Ortswechsels (exotische Lebensmittel) oder befreien uns von räumlichen und zeitlichen Zwängen (Handys, iPads etc).
Aber was uns verwöhnen soll, das stresst uns auch. Was uns Autonomie verschafft, bringt auch neue Zwänge. Der Freude über Facebook folgt die Klage über die Facebook-Sucht, statt freier Fahrt nervt uns der Stau. Jetzt gibt es chinesische Nudeln – aber wurden sie mit Melamin gestreckt? Es ist heute nicht mehr so klar, was überwiegt, der Zugewinn an Bequemlichkeit oder der Frust: Lohnt es sich überhaupt, für marginale Bequemlichkeitsgewinne so viel zusätzliche Kraft aufzuwenden? Ich habe ein Paar Outdoor- und ein Paar Indoor-Tennisschuhe, zwei Paar Laufschuhe sowie alte Basketballschuhe und Freizeitschuhe, die wie Sportschuhe aussehen, und stehe vor dem Nike-Tower in Berlin und frage mich ernsthaft, ob ich mir Cross-Country-Schuhe kaufen soll, weil ich das im Urlaub ausprobieren will. Zum Glück schreckt mich der Preis ab, denn brauchen tue ich die Schuhe nicht. Ein »Verbraucher« bin ich eigentlich genauso wenig wie die meisten Deutschen, denn Konsum bedeutet wörtlich »verzehren«, und wir verbrauchen die Dinge kaum noch, die wir kaufen. Vieles liegt zu Hause herum, vieles schmeißen wir – kaum gebraucht – weg, darunter 800 000 Tonnen Kleidung, 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel und eine Million Tonnen noch funktionsfähige Elektronik im Jahr. 2
Lohnt es sich, dafür länger und härter zu arbeiten? Für das bisschen Zusatznutzen, den wir im neuen Trendprodukt erwerben? Viele stellen sich ab und an diese Fragen, und dann greifen sie doch wieder zu. Für die Vulgärökonomen ist damit die Sache erledigt: Konsum ist Konsum. Die Leute kaufen es, also wollen sie es. Jede Kritik an Marketing und schon gar an der Präferenzentscheidung für irgendeine Ware, und seien es neonrosafarbene Plüschbären oder Monster-Backe-Knister-Zungenfärber, ist eine Anmaßung und versuchte Freiheitsberaubung des mündigen Verbrauchers. Aus der Sicht des Konsumkapitalismus ist der Konsument der freieste Mensch, der je diesen Planeten bevölkert hat, und er wird auch mit jedem Tag freier, weil die Warenvielfalt schließlich zunimmt. Die Welt wie sie ist, ist die beste aller Welten: Konsumentscheidungen sind insgesamt Ausdruck der kollektiven Sehnsucht der Menschen. Besser kann die Welt nicht sein, denn sonst hätten sich die Menschen anders entschieden.
Zugegeben, das ist die reine Marktlehre, die in der Wirtschaft so kaum einer vertritt, weil sie zu offensichtlich Unsinn ist. Dafür
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