Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
hilft gern ein bisschen Angst. Die Europäer sollen der guten alten »protestantischen Arbeitsmoral« neues Leben einhauchen, fordert der britische Historiker Niall Ferguson. Ferguson ist ein einflussreicher Intellektueller, der den Westen vor einer großen geopolitischen Gefahr sieht: China, die neue Supermacht, und andere Schwellenländer werden uns überflügeln, wenn wir nicht zu den alten Tugenden zurückkehren. »Die Europäer sind heute die Faulpelze der Welt« 44 , schimpft Ferguson. »Wenn man die globalen Arbeitszeiten vergleicht und sieht, dass der durchschnittliche Südkoreaner 1000 Stunden mehr im Jahr arbeitet als der Deutsche, weiß man alles.« 45 Nämlich, dass der Niedergang des Westens bevorsteht. 46
Den faulen Europäern hält Ferguson die fleißigen Amerikaner entgegen. Deren Jahresarbeitszeit sei nicht Ende der 1980er Jahre stark abgefallen, sondern sei mit 2000 Stunden bis heute relativ konstant geblieben. In den USA habe sich das puritanische Berufsmenschentum als »Killerapplikation«, die den Westen groß und überlegen gemacht habe, bis heute gehalten, weil die Amerikaner heute evangelikaler sind denn je. »Ihr Glaube lässt sie härter arbeiten, als sie es sonst würden.« Europa allerdings wird absteigen, so der konservative Historiker, weil die »Europäer nicht nur weniger arbeiten, sondern auch weniger beten« als früher. 47
Wir verstehen die Botschaft: Ferguson will den faulen Europäern ein schlechtes Gewissen angesichts des niedrigen Arbeitsvolumens einreden und uns damit auf Trab bringen. Der Zusammenhang zwischen Religion und Arbeit besteht nach Ferguson unvermindert weiter. Die Amerikaner hätten sich nicht säkularisiert. Ihre christlichen Glaubenswahrheiten sind durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften und in der Psychologie seltsam unberührt geblieben. Während sich ab 1968 in Deutschland die Kirchen leerten, ging die amerikanische Gegenkultur der Hippies mit einem »Boom des evangelikalen Protestantismus einher«. Billy Graham, das konservative »Maschinengewehr Gottes«, wetteiferte mit den Rolling Stones darum, wer die Stadien voller kriegte. Über die Zeit wuchsen beide Bewegungen zusammen. Die Hippies gingen ursprünglich aus den Beatniks hervor, einer amerikanischen Ausprägung der säkularen Bohemien-Kultur, die in Galerien, Theater, Cafés und Clubs zu Hause war. Die Hippies protestierten zwar auch gegen die Spießer, aber eine anti-religiöse Stoßrichtung hatten sie nicht mehr. Als die Hippie-Kultur nach dem Sommer of Love von 1968 zur Massenkultur aufstieg, enthielt sie schon viele religiöse Elemente. Bereits in Woodstock trat mit »Tommy« von The Who der blinde Messias auf, und Ian Gillan von Deep Purple sang im Musical Jesus Christ Superstar den Jesus. 48 Inzwischen haben sich Gegenkultur, Pop, Gott, Konsum und Business wunderbar versöhnt. Ferguson schreibt, dass Bobby Troup, der einst (Get Your Kicks on) Road 66 sang, dort »keine »Kicks« mehr bekäme, »sondern eher Kruzifixe«. 49 Und er zitiert einen der evangelikalen Erben der Jesus-Revolution, den Pfarrer John Lindell, der seinen Anhängern verspricht, dass »die Prinzipien der Bibel nicht nur euer spirituelles Wachstum befördern werden, sondern auch euch helfen werden, bei der Arbeit erfolgreich zu sein, in Beziehungen erfolgreich zu sein und in der Finanzwelt erfolgreich zu sein«.
»Die erfolgreichsten Sekten florieren gerade deswegen«, erläutert Ferguson, »weil sie eine Art von Konsum-Christentum entwickelt haben, das an einen Supermarkt-Gottesdienst erinnert.« Wie im Multiplex-Kino gibt es ein Drive-in, wo man Cola oder Starbucks-Kaffee bekommt, man hört religiöse Popmusik und wird bestens unterhalten: Spontanheilungen, sentimentale Erweckungserlebnisse, Familientragödien, die Gott durch sein Eingreifen kuriert. Gott, der strenge Vater, wurde ersetzt durch Gott, den Analytiker und Persönlichkeitscoach. Die Mega-Churches bieten einen Deal an: Der Gläubige muss beten und alles geben, dafür hat er im Gegenzug eine Forderung an Gott, die dieser einlösen muss. Gott soll ihn reich machen und gesund und glücklich.
Wir arbeiten zu viel.
Mir fällt es schwer, Fergusons Empfehlung auch nur ernst zu nehmen, auch wenn ich zugeben muss, dass die Verbindung von Gott, Geschäft und Gegenkultur im kalifornischen Kapitalismus blendend funktioniert: Die Wachstumszahlen sind robust, die Gewinne der Aktionäre sprudeln, das Land ist derart im Konsumrausch, dass es wie Griechenland schon
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