Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Bibelstunden – sie sind in Europa der Säkularisierung zum Opfer gefallen. Geblieben sind: die Arbeitsmoral, der Wille, moralisch korrekt und dadurch besonders erwählt 15 zu sein. Zum Verständnis puritanischer Moral gehört die Bedeutung der Konformität, also das, was Cotton Mather jedem Gläubigen als idealen Lebenslauf abforderte. Wer die vielen Sekten in den USA beobachtet, sieht diese glaubensbestimmte Uniformierung, eine Art freiwillige Stereotypisierung. » Ich kenne kein Land, in dem im Allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als Amerika« 16 , beobachtete schon Alexis de Tocqueville, dem natürlich auch der Widerspruch zum amerikanischen Individualismus auffiel. Tocqueville erklärte die Spannung mit der sozialen Kontrolle, die eine sehr homogene öffentliche Meinung ausübt: »Mit der Masse nicht im Einklang zu sein, heißt sozusagen nicht leben. Diese braucht nicht die Gesetze anzuwenden, um die Andersdenkenden unterzukriegen.« Aus Angst vor dem Pranger, heute ist es der Shitstorm, kuschen die Menschen schon im vorauseilenden Gehorsam. Um den Einzelnen wie auch die Gesellschaft perfekt zu modellieren und zu verbessern, schuf der Puritanismus die politische Korrektheit: Amerikanische Schulbücher dürfen die Welt nicht so zeigen oder benennen, wie sie ist, sondern wie sie als vorbildhafte Welt sein soll: Alles ist harmonisch, keiner diskriminiert den anderen, Kinder sind brav und intelligent, es gibt keine Dummen, Männer und Frauen unterscheiden sich in nichts. 17 Das Prinzip der idealen Welt ist dasselbe geblieben, verglichen etwa mit dem 17. Jahrhundert, geändert haben sich freilich Teile des Inhalts: Schwarze und Indianer sind keine Teufel mehr, wie noch bei Cotton Mather, sondern gleichberechtigt – immerhin doch ein Fortschritt. Deutschland ist nicht besser: Der Zensor macht sich über unkorrekte Wörter in Kinderbüchern her. Für Europa ist die Übernahme der homogenen Antidiskriminierungsmoral ein Rückschritt, denn sie bewirkt in der Praxis nichts – was man an der bestehenden Ungleichheit in den USA gut ablesen kann – schränkt allerdings die Meinungsfreiheit massiv ein, was ja auch ihr Sinn und Zweck ist.
Dauerüberwachung leicht gemacht – per Google und Facebook.
Mit Hunderten von Verhaltensregeln und den 360-Grad-Feedbacks ist der börsennotierte Großkonzern der standardisierten Korrektheit inzwischen schon recht nahe gekommen. Eine altbewährte Kontrollmethode kommt vielleicht bald noch hinzu: Die Puritaner führten akribisch Tagebuch, um die eigene Lebensführung ständig selbst zu überprüfen und Verfehlungen festzuhalten. Mit der »Timeline« von Facebook ist dieses Instrument nun einfach und für alle handhabbar, auch für Unternehmen. Facebook-Gründer Zuckerberg äußerte die Vision, dass bald jeder Mensch sein gesamtes Leben auf der »Timeline« abbildet. Es wird eine perfekte Welt sein, eine Welt ohne Verfehlungen, denn diese werden einfach von anderen Usern angezeigt (um das böse Wort denunzieren zu vermeiden) und dann gelöscht. Im nächsten kalifornischen Moralisierungsschub hat die »Timeline« große Chancen, zur Disziplinierung und Dauerüberwachung eingesetzt zu werden. 18
Mit Big Data wird die Disziplinierung auf das Privatleben ausgedehnt, das ebenfalls perfekt und optimiert sein muss. Die Personaler sind immer auf der Suche nach dem besonderen Kandidaten, der tolle Zeugnisse hat, daneben aber auch noch außergewöhnliche Hobbys und Talente, ob jemand gut Schach spielt, Marathon läuft oder Nachhilfe gibt. Wenn Männer gerne kochen oder Frauen Fußball spielen, kommt das sehr gut an. Die privaten Aktivitäten sollen illustrieren, dass der Bewerber sich brav in den Mainstream-Kriterien bewegt. Von solchen Mitarbeitern ist anzunehmen, dass sie auch neue Trends mitgehen und das tun, was von ihnen verlangt wird. Freiheit bedeutet, dass der Einzelne sich entscheiden kann. Das kann er aber nicht, wenn das Gros der Personalagenturen und Human-Resources-Abteilungen das Privatleben durchleuchtet und nach der rundum glatt geschliffenen Persönlichkeit sucht.
Je höher die Latte, desto größer die Heuchelei.
Auch bei der Compliance ist die moralische Überforderung für Firmen und Mitarbeiter groß und gewollt: Jeder Zulieferer muss unterschreiben, dass er sich mit Blick auf Menschenrechte, Ökologie, soziale Verantwortung, Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit, Löhne, Sicherheits- und Gesundheitsmaßnahmen, geistiges Eigentum
Weitere Kostenlose Bücher