Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
lernfähig und bildet sich andauernd weiter? Dem Fragebogen liegt eine Bewertungsskala zugrunde. Nach der Befragung werden Ist-Werte und Soll-Werte verglichen, und in einem Aktionsplan muss der Beurteilte dann Schritte vereinbaren, wie er seine Performance verbessern kann. Das geschieht natürlich alles freiwillig.
Bröckling verweist aber darauf, dass das 360-Grad-Feedback keineswegs ein »besonders perfides, weil auf freiwilliger Selbstkontrolle beruhendes Unterwerfungsinstrument« ist. So war noch der calvinistische Sonntagsgottesdienst konzipiert, der den Gläubigen zur erniedrigenden Selbstkritik zwang. Der musste auf einen extra Stuhl steigen und weinend um Vergebung winseln. Die alte Kontrollkultur setzte auf klassische Disziplinierung und asketische Pflichterfüllung. 8 Im 360-Grad-Feedback vermischt sich nun jedoch die alte Bestrafungskultur mit der Selbstentfaltungsideologie der 68er. So verspricht das Feedback dem Einzelnen einerseits, seine persönlichen Potenziale zu entwickeln und für das Unternehmen dadurch wertvoller zu werden, andererseits schwingt die Drohung mit, bei der nächsten Feedback-Schleife ausselektiert zu werden, wenn keine Verbesserungen erkennbar sind. Dabei behält die im Puritanismus alles überragende Nutzen- und Profitmaximierung natürlich die Oberhand. Sie bestimmt die Kriterien, welches Verhalten als gut und welches als schlecht eingestuft wird. Diese Kriterien werden »wissenschaftlich« standardisiert, was nach Objektivität aussieht. Maßstab ist der Markterfolg des Unternehmens, und wenn im Sinne der Selbstentfaltungswerte beim Mitarbeiter infolge eines Feedback-Gesprächs eine Weiterbildung genehmigt wird, dann weil die Qualifizierung auch dem Unternehmen nützt.
Was nicht den Unternehmenserfolg unterstützt, wird gar nicht erst erfasst. »Die Menschen evaluierbar und sie verwertbar zu machen, ist ein und derselbe Vorgang«, analysiert Bröckling. Weil aber die Menschen nicht dumm sind, sondern das Schema verstehen, tun sie das, was gemessen wird, und vernachlässigen das, was vom Raster nicht erfasst wird. Die Feedbacks schaffen so erst die Wirklichkeit, die sie zu erfassen vorgeben, und aus der Selbstoptimierung, die sich an den Maßstäben derer orientieren muss, die das Feedback abgeben, wird unter der Hand ein Disziplinierungsvorgang: Ich bin, was über mich erhoben wird und was ich, ausgehend davon, aus mir mache.
»Wo sehen Sie sich in zwei Jahren?«
Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass das Ich und der Unternehmenserfolg identisch werden. Bewerber passen sich bereits vorbeugend an: Früher begann ein Lebenslauf chronologisch, enthielt Angaben über Eltern, Geschwister und erste Lebensstationen. Der Lebenslauf von heute ist demgegenüber viel angepasster. Er beginnt mit der Gegenwart und ist so aufgebaut, als ob der neue Job, für den man sich soeben bewirbt, der Gipfel einer methodisch geplanten Berufskarriere sei, so etwas wie der krönende Abschluss, die Antwort auf die in zahllosen Feedback-Gesprächen gestellte Frage: »Wo sehen Sie sich in zwei Jahren?«
Ein freier Mensch wird in einem Angestelltenverhältnis stets zwei Ziele versuchen zu vereinbaren: ein gutes Leben für sich selbst und die Erfüllung der übernommenen Aufgaben im Unternehmen. Er wird, völlig legitimerweise, Tätigkeiten, die ihn persönlich im Job weiterbringen, verstärkt verfolgen, und er wird versuchen, diese gut mit seinen anderen Eigenschaften, etwa als Familienvater, zu verbinden. Kurzum: Das Verhältnis kann nicht konfliktfrei sein, wenn der Angestellte nicht seine Persönlichkeit völlig aufgibt.
Die Idee des 360-Grad-Feedbacks will aber in ihrer perfekten Form genau das. Die Selbstverbesserung dient dazu, Fehler und Versäumnisse, die dem Firmenerfolg schaden, im Verhalten zu eliminieren und den Mitarbeiter immer weiter auf seine Kompatibilität mit den Interessen der anderen hin zu optimieren. Gerechtfertigt wird das mit dem angeblich allgegenwärtigen Wettbewerb, der dazu zwingt, sich den Wünschen der Kunden, der Finanzinvestoren, der Umweltverbände anzupassen. 9
Je höher die Latte liegt, desto größer der Frust.
Deutsche Unternehmen geben an, dass sie die Compliance-Regeln vor allem aus Angst vor straf- oder zivilrechtlichen Folgen einführen, etwa weil Mitarbeiter Regeln des Datenschutzes verletzen könnten. Sie betonen aber gleichzeitig, dass sie keinen Anlass dazu haben, weil die Anzahl der Verstöße keineswegs zugenommen habe. Die Deutschen folgen also
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