Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Finanzkrise, der Erschöpfungsepidemie und dem Konsumfrust auch genug Beispiele haben für seine negativen Auswirkungen auf die Psyche, beherrscht der Optimierungswahn weiterhin den Zeitgeist: Ein Leben, das nicht ständig an seine Grenzen geht und das nicht versucht, alles zu erreichen, und dies auch schafft, weil es ja jeder schaffen kann, wenn er nur will, ist nicht wert, gelebt zu werden. In dieser Überbietungslogik ist das Außergewöhnliche das Mindeste, was man von anderen und von sich erwarten kann.
Die Feuilletons erzählen uns über beinahe jeden Künstler, dass er »traditionelle Sehgewohnheiten überschreitet« und sich »über konventionelle Auffassungen hinwegsetzt«. Sie berichten über Theateraufführungen, die die herkömmliche Interpretation »völlig verändert« haben, oder dass dieser oder jener Musiker seinen rebellischen, verstörenden oder abseitigen Stil ganz unabhängig von Akademien oder etablierten Vorlagen gefunden hätte. Literaturpreise erhalten Autoren, die irritieren, hermetisch schreiben und auf jeden Fall widerständig sind und nicht marktgängig, wobei die Agenten im Hintergrund alles dafür tun, dass sie sich dann doch gut verkaufen. Natürlich ist vieles von diesem Genie- und Einzigartigkeitsgerede Bluff, denn wenn sich jeder über alles hinwegsetzt, gibt es eigentlich nichts, worüber man sich hinwegsetzen kann. Wenn sich jeder von anderen abgrenzt, gibt es nichts, wovon man sich abgrenzen kann. Aber die Penetranz solcher Phrasen zeigt, dass Be creative! zu einem allgemeingültigen kulturellen Imperativ geworden ist, der längst in der Kreativindustrie, der Innovationsökonomie und den Psychotechniken des Selbstwachstums Einzug gehalten hat.
»Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war«, schreibt Andreas Reckwitz 29 , ist Mainstream geworden und vor allem der Persilschein für schrankenlose sensationsheischende Selbstvermarktung. Bei Musikshows wird nicht mit Superlativen gespart. »Wahnsinn« ist dort nicht die höchste, sondern die niedrigste Übertreibungsstufe. Wem nicht klar ist, dass natürlich auch diese Beurteilungen der prominenten Coaches reiner Bluff sind, könnte meinen, dass sich sämtliche Beteiligte ununterbrochen am Rande des Herzinfarkts und des Überschnappens bewegen. Der Jargon der Betroffenheit und Hyperemotionalität, der Gefühle tatsächlich mehr verdeckt als offenlegt und Authentizität nicht ausdrückt, sondern inszeniert, kommt ein weiteres Mal aus der alternativ-romantischen Gegenkultur. Sie leistet, wie auch schon bei der Konsumkultur, gute Dienste für die Vermarktung besonders von kulturindustriellen Gütern. 30
Die Managerliteratur ist nicht viel anders: Auch hier sollen Manager ständig Grenzen überschreiten, nicht nur die der Legalität. Es sollen Hierarchien hinterfragt, Routinen vermieden, Strukturen, die grundsätzlich verkrustet sind, aufgebrochen und ungewöhnliche Wege gegangen werden – und nicht zu vergessen, Innovationen ermöglicht werden. Also wird geblufft und der Hype gehypt. Was ist » the next big thing« ?, fragt die Steigerungslogik, denn der nächste Hype kommt so todsicher, wie Usain Bolt von einem noch schnelleren Läufer überholt wird. Also steigere und optimiere dich, damit du mithalten kannst. Wer nur seinen Job gut macht, der ist ein Niemand.
Wir sind alle Marathonläufer – der gequälte Körper arbeitet dauernd an sich selbst.
Die Extremerfahrung wird zum Statussymbol. Theologisch-puritanisch gesprochen drückt sich darin die eigene Erwähltheit aus, mit der man sich von der Masse abhebt. Viele sind berufen, nur wenige sind auserwählt (Mt 22,14). Diese Demonstration des Außergewöhnlichen unterscheidet sich von der Status-Kritik eines Thorstein Veblen, der noch die Stahlbarone und Bankiers anklagte, zur »leisure class« zu gehören, weil sie sich durch einen distinktiven Konsumstil, dessen Rituale und Codes nur Eingeweihte verstehen, vom Durchschnittsbürger absetzten. Den demonstrativen Konsum gibt es heute in St. Moritz oder Beverly Hills immer noch, aber noch wichtiger ist die Selbstoptimierung. Sie führt zur »Bewährung« zurück: Der Held, ob er nun Richard Branson oder Felix Baumgartner heißt, bewährt sich am Limit, er überschreitet die Grenze, das gibt ein Zeichen seiner Erwähltheit. Da kann ihm kein Geld helfen, höchstens ein bisschen bei der Vorbereitung. Also sieht man die ehrgeizigen Selbstoptimierer beim Iron Man und zum Kilimandscharo aufsteigen, besser noch zum Knochen
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