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Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Titel: Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max. A Hoefer
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schindenden Mount Everest, denn diesen Gipfelsturm überleben nicht alle. Helikopterskiing, Wolkenkratzerklettern, Basejumping, Wüstentrecking oder Haitauchen: Der Extremsport erobert alles, auch die letzten Winkel unberührter Natur, wobei die PR -Manager solcher Events mit umweltfreundlichen Alibi-Aktionen die Gewissen beruhigen. Es sind nicht nur eitle Selbstgefährder, die gab es schon immer. Dafür sind es zu viele, es ist eine Massenbewegung. Der Marathon hat sich, wegen der Entsagung und der Lust am Schmerz, zu einem gesellschaftlichen Leittrend entwickelt. Der gequälte Körper arbeitet quasi laufend an sich selbst. Zum Genießen hat er einfach keine Zeit. Er ist ein Zeichen der Willensstärke. In den Fitnessstudios arbeiten sich auf Streckbänken und Laufbändern asketische Leistungsmenschen ab, deren Trainingspläne von Trackingtools bis auf die dritte Kommastelle genau verfolgt werden, um auch noch die kleinsten Defizite zu dokumentieren. Methodische Lebensführung, die selbst Max Weber nicht für möglich gehalten hätte.
    Selbstoptimierer wollen beweisen, dass sie einzigartig sind. »Extremsport dient in erster Linie der Inszenierung von Individualität«, sagt Karl-Heinrich Bette, Sportsoziologe an der Technischen Universität Darmstadt. »Es reicht heute nicht mehr aus, ein Kind zu zeugen, ein Haus zu bauen, einen Baum zu pflanzen – der moderne Mensch hält sich offensichtlich erst dann für wertvoll, wenn er allein die Welt umsegelt oder den Mount Everest bezwungen hat.« 31 Bettes Hinweis auf den »Selbstwert« ist entscheidend, denn er spricht die psychische Disposition an, die diesem Streben nach Grandiosität zugrunde liegt. Der Calvinist war davon überzeugt, dass wir »nicht das Geringste dem eigenen Wert zu danken zu haben«. Nur wer Leistung bringt, darf geliebt werden. 32
    Dieses psychologische Motiv ist viel stärker als die neurophysiologischen Erklärungen, die heute den Extremsport erklären wollen: Danach geht es den Extremsportlern schlicht um den Kick durch Endorphine, die bei Ängste überwindenden Grenzerfahrungen freigesetzt werden. Diese körpereigenen Morphine erleichtern die Strapazen und machen süchtig. Das stimmt, erklärt aber nicht, warum diese Extremsportwelle jetzt aufkommt. Griechisch-orthodoxe Mönche oder Indios aus Chiapas laufen keinen Marathon, obwohl bei ihnen die Endorphine sicherlich dieselbe Wirkung haben wie bei westlichen Leistungsfanatikern. Erst musste sich das Wertesystem so verändern, dass durch Extremsport etwas ausgedrückt werden kann, das in unserem Wertesystem etwas gilt. Durch Extremsport kann heute im Westen Erwähltheit demonstriert werden, weil sich die puritanischen Werte (Leistung, Ausdauer, Konkurrenzfähigkeit) mit gegenkulturellen (vormals pietistischen) Werten (Selbstverwirklichung, Autonomie, Einzigartigkeit) verwoben haben.
    Für die längste Zeit der Menschheit erschien es völlig absurd, durch Leistungssport oder wirtschaftlichen Erfolg seine Einzigartigkeit herauszustellen. Im alten Rom etwa gab es Gladiatoren und Reiche wie Crassus, aber der Gladiator grüßte Cäsar als »Todgeweihter«, und Crassus konnte mit noch so viel Geld nicht das »Ansehen« einer alten Senatorenfamilie erkaufen. Ihr Selbstverständnis unterschied sich beträchtlich von dem heutiger Selbstoptimierer. Der Vergleich mit anderen Religionen zeigt den Unterschied vielleicht noch besser: In den antiken Religionen geht es vor allem um die Reifung der Persönlichkeit: Der Buddhist geht einen Pfad, der Mönch einen inneren Weg, im Zen ist der Weg das Ziel, er muss auf diesem Weg nicht schneller sein als der andere oder eher ankommen, und es braucht nichts Außergewöhnliches dazu. Extreme waren abschreckend.
    Mir imponiert die Ruhe, die eine im Lotossitz dargestellte Buddhastatue ausstrahlt. Keine Hektik, keine Steigerung sämtlicher Lebensbereiche, sondern Ruhe und Konzentration. Nichts in unserer Natur und kein einziges Marktgesetz zwingen uns zum hektischen Lauf im Hamsterrad. Es ist der Puritaner in uns, der sich der Tretmühle willig ausliefert.
    Ein weiteres Beispiel für die kulturelle Prägung unseres westlichen Kapitalismus ist das Schönheitsideal: Auch hier ist zuerst das puritanische Schönheitsideal der Schlankheit da: leicht abgemagert, hohlwangig, asketisch, diszipliniert und dabei die Sexualität unterdrückend. Der Kapitalismus vermarktet dieses Schönheitsideal, weil er es vorfindet, nicht weil er es aus irgendwelchen Marktgesetzen kreiert. Der

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