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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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schneiden, sei es aus Langweile oder aus Trotz gegen ihr Leben ohne Tageslicht.
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    Die Tüte mit dem Aufschnitt lege ich zu den Äpfeln, den Zitronen, der Milch und dem Honig in den Wagen, ich glaube, ich bin schon Stunden hier. Wann genau ich durch die Schiebetür gekommen und durch das Drehkreuz gegangen bin, weiß ich nicht. Ich schaue auf meine Armbanduhr und, merkwürdig, kann sie nicht lesen. Sieht so aus, als ob die Uhr, die L. mir geschenkt hat, nicht mehr funktioniert, jedenfalls stehen die Zeiger in einem bisher für unmöglich gehaltenen Winkel zueinander, ich kenne diese Zeigerstellung nicht. Ich lasse meinen Arm sinken, denke, das ist doch gar nicht möglich, es kann keine Zeigerstellung geben, die ich noch nicht gesehen habe, und höre im selben Moment die Supermarktstimme, die schon wieder die Angebote der Woche durchsagt.
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    In den Seitentaschen meines Mantels suche ich nach meiner Einkaufsliste, die ich, ich weiß es genau, wie fast immer in der letzten Zeit auf die Rückseite eines nicht sehr sorgfältig geöffneten Fensterkuverts geschrieben habe. Als ich die Hand aus der linken Manteltasche ziehe, fällt ein Kassenbon heraus und segelt Richtung Fußboden, als krakeleer etwas in die Luft. Ich bücke mich, hebe ihn auf und lese

     
    Es ist ein Kassenzettel aus dem Drogeriemarkt, in dem ich gestern oder vorgestern war, um Bleib-Gesund-Fruchtschnitten zu kaufen. Nein, ich glaube nicht wirklich daran, daß ich gesund bleibe, wenn ich diese Schnitten esse, deren zwischen zwei Oblatenpapiere gepreßte halbtrockene Fruchtmasse sich durch Druck auf beide Seiten leicht herausquetschen läßt. Oder doch? Ich weiß noch, daß icheine der beiden Packungen aufriß und ihren Inhalt gierig in mich hineinstopfte, gleich nachdem ich bezahlt und den Laden verlassen hatte, das war kurz nach meiner Begegnung mit dem digitalen Springseil, auf das ich in dem Sonderverkaufsbereich des Drogeriemarkts gestoßen war. Noch bevor ich es durch die transparente Blisterverpackung näher gemustert hatte, sah ich mich schon in professioneller Sportbekleidung, die ich gar nicht besitze, verschwitzt im Keller eines Hauses, das ich gar nicht kenne, im Übungsraum trainieren, sah mich in einem engen T-Shirt , unter dem sich meine Bauchmuskeln wie Heizrippen abzeichneten, mit muskulösen Oberschenkeln und Waden, wie ich sie gar nicht habe, hinauf in einen hellen Wohnbereich kommen, sah mich, mir selbst nur ganz entfernt ähnlich, in einem völlig anderen Leben und hörte mich zu einer mir unbekannten blonden Frau, die in einer offenen, amerikanischen Küche stand, Hallo Liebling sagen. Diese meine Gattin, die nichts, aber auch gar nichts mit L. gemeinsam hatte und mich auch Liebling nannte, fragte dann, ob ich nicht einen Teller Gazpacho essen wolle. Ja, sagte ich in dieser Phantasie, und schon im nächsten Augenblick sah ich uns beide halbnackt auf der Küchenarbeitsfläche liegen, erstaunt, daß ich weder wußte, wann wir geheiratet hatten, noch woher wir uns kannten und in welchem Jahr wir in dieses Haus gezogen waren. Viel schlimmer, ich wußte nicht einmal, welches der beiden Autos mir gehörte, die ich, während wir da auf der Arbeitsfläche lagen, durch das Küchenfenster in der Einfahrt stehen sah. Überhaupt keine Erinnerung mehr zu haben gehörte zu dieser Phantasie, in der ich meiner viel zu laut stöhnenden Frau, deren Namen ich ebenfalls nicht wußte, die Jogginghose nicht einmal ganz herunterzog, auch sie war ja gerade erst vom Sport zurück, sie sagte noch: Paß auf, es ist die Kaschmirtrainingshose, ich aber achtete nur darauf, ob sie, diese gutaussehende, nach frischgepreßtem Apfelsaft riechende Frau, kurz vor ihrem Orgasmus nicht vielleicht meinen Namen wisperte oder schrie, ich hätte doch gern gewußt, wie ich heiße und wer ich eigentlich bin.
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    Ich habe den Kassenzettel noch in der Hand, sehe die aufgedruckte Telefonnummer und frage mich, unter welchem Vorwand ich, so etwas habe ich noch nie gemacht, dort anrufen könnte. Ich könnte mein Telefon aus der Hosentasche ziehen, die Nummer tippen und nach der Frau an der Kasse fragen, die mich nach jedem Einkauf anlächelt und mir immer einen schönen Tag wünscht. Schon als ich sie das erste Mal an der Kasse sah, hat sie ganz tief in mich hineingelächelt, ich weiß nicht, wie ihr das gelingt. Auf den ersten Blick ist sie eine unscheinbare Frau mit rotgetöntem Haar, die wie alle Drogeriemarktkassiererinnen einen Kittel tragen muß, der für die

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