Vier Äpfel
zurückkommen, in mir so breitgemacht hatte, daß ich mich fast darüber ärgerte. Dieses Gefühl war aber nicht groß genug gewesen, daß ich auch alle anderen Reste und Reliquien, die von ihr in der Wohnung geblieben waren, beseitigt hätte. Seitdem kritzele ich meine Einkaufslisten auf gebrauchte Briefumschläge.
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Indem ich mich auf den Einkaufswagen stütze, spiele ich einen alten Mann, der sich über seine Gehhilfe beugt. Ich versuche mich zu erinnern, was auf meinem Einkaufszettel stand, bin aber leicht benebelt, vielleicht betrunken, doch wovon? Im Drogeriemarkt habe ich einmal eine Frau gesehen, die eine Photo-Abholtasche aus dem Regalfach zog und sofort aufriß, um die von ihr bestellten Abzüge zu betrachten. Bis dahin nichts Besonderes, dann aber staunte ich über ihren sich ändernden Gesichtsausdruck, plötzlich schien die Frau wie weggetreten, nicht mehr da. Es sah aus, als ob sie statt zwischen Geschenkpapierrollen und Packungen mit feuchtem Toilettenpapier nun tief in ihrem Privatleben stünde. Etwas, das wie ein halbdurchsichtiger Duschvorhang vor ihr gehangen hatte, war zur Seite geschoben worden, und eine andere Frau stand da, auf deren nunmehr aufgeklartem Gesicht sich große Rührung abzeichnete. Ich wußte zwar nicht, was sie betrachtete – Bilder von der Einschulung ihrer Tochter oder von ihrem Sohn an dessen Geburtstag, den Arm voller Geschenke, oder von ihrem Mann, der im Urlaub am Strand eine Sandburg baut –, trotzdem übertrug ihre Rührung sich auf mich, ich war mitgerührt, schämte mich gleichzeitig aber ein wenig dafür, daß ich sie in einem so intimen Moment beobachtete. Die Frau, die ein sehr schmales Gesicht und keine kleine Nase hatte, bemerkte bald selbst, daß sie sich vergessen hatte und ihre Einkaufsmaske von ihr abgefallen war. Ihr wurde bewußt, daß sie sich in einem Drogeriemarkt befand, und der Duschvorhang schob sich wieder vor sie, sie setzte ein Neutralgesicht auf, steckte die Bilder zurück in den Umschlag, klappte ihn zu und ging zur Kasse.
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Ich wünschte, auch ich könnte mir jetzt ein paar Photos abholen, einen Umschlag, in dem ich Aufnahmen der schönsten Momente meines Lebens fände. 1) Als ich L. im Schreibwarenladen wiedertraf und mich in sie verliebte. 2) Wir beide irgendwo am Meer, zwischen zwei großen Felsen. 3) An einem Morgen im April, am Ende der Nacht, wir kommen aus einem Club, die Vögel sind schon laut, und wir machen uns zusammen auf den Weg durch die halbe Stadt nach Hause. 4) An einem italienischen See auf der Fahrt nach Venedig, vielleicht auch an einem anderen See, der still und klar und grün in der Mittagssommersonne liegt. 5) Ihr Gesicht, wenn ihr etwas sehr gefiel, ihr Gesicht, wenn sie Sachertorte aß. 6) Vormittags im Garten, im Frühling, im hellen Licht nach einem langen Winter. Ein paar andere Momente fallen mir noch ein, aber nicht viele. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Menschen wie ich, die fast nie Photos gemacht haben, sich hier welche abholen könnten, auf denen alles noch einmal zu sehen wäre. Ich würde mir gern mehr Erinnerung kaufen, gern auch Erlebnisse, an die ich mich dann erinnern könnte, ohne sie je gehabt zu haben. Ein Photoalbum mit Bildern, auf denen man mich in Städten, in denen ich nie gewesen bin, und an Stränden, an denen ich nie gelegen habe, sieht. Und ich dürfte denken: Wie angenehm, ein anderer ist für mich verreist und an all diesen Orten gewesen, hat all diese schönen Dinge gesehen und sich von Mücken stechen lassen, ich muß da nicht mehr hin.
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Ich weiß nicht mehr, wie ich heiße und wie alt ich bin, ich weiß nicht mehr, wie spät es ist und was ich einkaufen wollte. Alles ist mir durch das Gitter meines Einkaufswagens gefallen, durch das ich den cremefarben-schwarzgesprenkelten Fußboden sehen kann. Auf diesem Fußboden stehen die Regale, sie bilden die Schluchten, durch die ich mich zwänge, und sind so voll, daß sie selbst verborgen sind. Keine Architektur soll mich ablenken, Fußbodenmosaike und Wandmalereien würden bloß zerstreuen, die Ware steht im Mittelpunkt. Deshalb bewege ich mich durch eine schlichte, gekühlte, vollgestopfte Schachtel, in der selten jemand einem anderen zu nahe kommt. Selbst wenn zwei Einkaufswagen aneinanderstoßen, sieht es aus, als rollten sie ungehindert durch den anderen hindurch. Manchmal habe ich Angst, einen fremden Wagen zu durchqueren und das nicht einmal wahrzunehmen, so wenig vorhanden fühle ich mich. Ich schwebe, als hätte
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