Vier Äpfel
ich all mein Gewicht verloren oder wäre, vielleicht habe ich es bloß noch nicht bemerkt, gestorben.
46
Zwischen den Gurkengläsern ragen hier und da kleine Pappschildchen aus dem Regal und verraten mir, daß es sich um Gurken aus der Region handelt, Erzeugnisse also, die nicht aus Frankreich oder Rumänien oder Madagaskar stammen und über Hunderte oder tausend oder noch mehr Kilometer herangekarrt wurden. Sonderbarerweise fühle ich mich den Gurken aus der Region gleich weniger verbunden. Ich möchte keine Umlandgurken essen, wenn überhaupt, steht mir der Sinn nach kleinen, scharfen französischenCornichons, die nicht selten zur Dekoration auf mit Salami belegten Brötchenhälften liegen, meist an einer Seite so eingeschnitten, daß sie sich zu einem Fächer spreizen. Ich brauche aber keine Gurken, ich dekoriere meine Brote und Brötchenhälften nie, deshalb schiebe ich mich zügig auch an den Gläsern mit Perlzwiebeln, Kapern und eingelegten Paprikaschoten vorbei. Plötzlich meine ich zu sehen, wie Biokartoffeln aus Ägypten, Weinflaschen aus Kalifornien und Auberginen aus Israel über den Globus zischen, hierher auf ihre Plätze auf dem Supermarktregal. Auf einmal sehe ich, woher die Dinge kommen, die Kiwis aus Neuseeland, die Erdbeeren aus Andalusien, ich sehe einen Trickfilm der Handelswege und Warenströme, in dem alle Produkte einen Schweif hinter sich herziehen, wie kleinste Teilchen in einer Nebelkammer. Auf den Regalen findet sich die halbe Welt, wer hier einkauft, darf kein Globalisierungsgegner sein, und ich ahne schon, gleich überfällt mich wieder mein schlechtes Gewissen, daß ich mir mein Obst und Gemüse nicht selber anbaue, sondern Tomaten aus Südspanien und Äpfel aus Chile oder China kaufe, oder dann, wenn ich bemerke, daß sie von so weit her kommen, doch nicht kaufe, weil ich keine Lebensmittel essen möchte, die weiter gereist sind als ich.
47
Obwohl ich vielleicht schon tausend- oder zweitausendmal 17 einkaufen war, überrascht mich immer wieder, was es hier alles gibt. Eigentlich müßte ich jeden Tag über dieungeheur komplizierte Arbeitsteilung staunen, die für das reichhaltige Angebot im Laden sorgt. Wie eigenartig, daß eine Biene in Mexiko für mich Blütennektar sammelt und ein Apfel an einem Baum in Chile oder China wächst und dann für mich gepflückt wird. Ich könnte ja kein einziges dieser Produkte selbst herstellen, ich könnte keinen Honig imkern, keinen Weizen sähen, dreschen, mahlen, ich könnte mir nicht einmal einen Liter Milch melken, obwohl ich das, es war auf einem Bauernhof – nicht etwa dem neben der Landesnervenklinik, sondern einem Postkartenbauernhof im Alpenvorland –, einmal versucht habe. Ich könnte auch kein Schwein schlachten und es zu Wurst verarbeiten, ohne einen Supermarkt müßte ich verhungern. Ich habe ja keinen Garten, an dessen Bäumen kleine, wurmstichige Äpfel hängen oder in dem ein paar von Schnecken angefressene Salatköpfe, Schnittlauch und Tomaten wachsen, grün wie die, die mein Großvater auf der Heizung in seinem Büro nachreifen ließ. 18 Und wo ich im Wald die wilden Erd- und Himbeeren finde, weiß ich auch nicht.
48
Mir ist, als zöge der Einkaufswagen mich wie ein Motorschlitten durch die Gänge. Hier gleitet der Wagen lautlos, draußen aber, auf dem Pflaster, wird es laut, auf unebenem Gelände hören Einkaufswagen sich an, als bewegten sie sich wie auf Panzerketten vorwärts, sie rattern und rasseln und erzeugen einen industriellen, aber nicht unrhythmischen Krach, dessen Intensität sowohl von der Beschaffenheit des Bodens als auch der Anzahl und Tiefe der Fugen im Pflaster abhängt. Nicht verwunderlich, daß ein Einkaufswagen es auf das Cover einer frühen Platte der
Einstürzenden Neubauten
gebracht hat. Einen einzelnen Wagen auf glattem Boden zu steuern fällt nicht schwer, schwierig sind mehrere, ineinandergeschobene Exemplare. Die Rangierer, die auf den Parkplätzen großer Einkaufszentren ganze Kolonnen bewegen, habe ich schon als Kind bewundert. Auf Flughäfen fahren sie manchmal kleine Zugmaschinen, mit denen sie die Kofferwagen zwischen den Ankunfts- und Abflugbereichen verteilen. 19
49
Kaufe ich richtig ein? Kaufe ich das Richtige? Kaufe ich gerecht? Habe ich vielleicht Milch von unglücklichen Kühen in meinem Wagen? Hätte ich nicht doch besser die in Glasflaschen nehmen sollen? Hat das Schwein, dessen Wurst ich essen werde, Antibiotika verabreicht bekommen? Oder hat es zuviel Getreide gefressen,
Weitere Kostenlose Bücher