Vier Äpfel
Unscheinbarkeit verantwortlich sein könnte. Sie hat einen Akzent, der verrät, daß sie nicht ihre Muttersprache spricht, mehr weiß ich nicht von ihr. Trotzdem ist mir plötzlich so, als ob wir beide eine Beziehung hätten und dieser Kassenzettel ein heimliches Liebesbriefchen wäre. Eine ähnlich geheime, nur mir bekannte Beziehung führe ich mit der dunkelblonden Buchhändlerin, die an manchen Tagen der Woche, leider weiß ich bis heute nicht, sie wechseln, welche das sind, in der Buchhandlung gleich nebenan arbeitet. Von draußen, durch das Schaufenster hindurch, kann ich sehen, ob sie im Laden ist. Ich betrete das Geschäft überhaupt nur dann, wenn ich siesehe, und kaufe, obwohl ich es später selten lese, ein Buch, das sie mir empfiehlt. Zu Hause lege ich es auf einen Stapel neben meinem Bett, einmal im Jahr räume ich diesen Stapel weg und stelle die Bücher zu den anderen ungelesenen ins Regal.
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Im Umkreis von sieben bis zehn Fußminuten gibt es sechs andere Drogeriemärkte, in denen ich Zahnbürsten, Rasiercreme oder Duschgel kaufen könnte. Ich aber gehe immer zu der Frau mit den getönten Haaren, bei ihr suche ich mein Shampoo und decke mich mit Seife, Putz- und Waschmitteln ein. 14 Bei ihr könnte ich, Drogeriemärkte haben ihr Sortiment in den letzten Jahren ja beträchtlich erweitert, mittlerweile sogar Wein, Süßigkeiten, Kaffee und vegetarische Nudelsoßen kaufen. Als ich noch in den Kindergarten ging, kam ich jeden Tag an einer Drogerie vorbei,in der es, die Preisbindung für Drogeriewaren war noch nicht aufgehoben, keine Lebensmittel gab. In dieser Drogerie Schwarzbeck, die dem Vater meiner Kindergartenliebe Anke gehörte, wurden Mäusefallen und Unkrautvernichter verkauft, Unkrautvernichter streute mein Großvater dann und wann im Garten aus. Es gab dort auch Sonnenmilch und Parfüm sowie verschiedene Pulver, die von Herrn Schwarzbeck hinter einem langen hölzernen Tresen abgewogen und in Papiertütchen gefüllt wurden – alles nicht der Rede wert im Vergleich zu den heutigen Drogeriemarktketten, deren wahre Angebotsbreite sich erst im Internet zeigt. Jedesmal wenn ich an der Drogeriemarktkasse bezahle und die freundliche Kassiererin, die ich nun gern anrufen würde, mich anlächelt, reicht sie mir ein Faltblatt, das für den Internetshop ihrer Kette wirbt. Bei meinem letzten Besuch sah ich hinein und entdeckte das Top-Angebot der Woche, einen Brillantring mit einem selbstverständlich lupenreinen Diamanten, der statt 7990 Euro nur noch 4444 Euro kosten sollte 15 – in der Drogerie Schwarzbeck, das fällt mirjetzt dazu ein, hätte ich, obwohl ich Anke damals heiraten wollte, keinen Diamantring kaufen können. Ein anderes in dem Prospekt beworbenes Produkt hieß Dream Maxx und war ein Zwei-Kammer-Luftbett aus PVC mit beflockter Liegefläche. Ich wußte zwar nicht, was ich mir unter einer beflockten Liegefläche vorstellen sollte, aber es klang weich und interessant und vielversprechend genug, außerdem gab es für nur 89,99 statt 149,95 Euro eine elektrische Pumpe mit Rückschlagventil und eine Tragetasche dazu. In diesem Faltblatt fand ich dann auch eine Abbildung des digitalen Springseils, das mich so begeistert hatte, aber mein Springseiltraum von einem ganz anderen, sportlichen Leben mit einer anderen Frau wiederholte sich nicht. Das Faltblatt habe ich mitgenommen, aber keinen Brillantring bestellt. L.s Größe, das weiß ich noch von unseren Ringen, ist siebenundvierzig. 16
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L. hat ihre Einkaufslisten immer auf die leeren Rückseiten alter Karteikarten geschrieben. Sie hatte Tausende dieser karierten, nie linierten Kartons, während ihres Studiums muß sie sehr fleißig gewesen sein. Oben rechts stand immer ein Datum, dessen Jahreszahl mit der mittlerweile ungewohnten 19 begann, darunter folgten Zitate, Literaturangaben und Verweise in ihrer kleinen, gar nicht krakeligen Schrift. Wartete ich mit einem dieser Kärtchen vor einer Wurst- oder Käsetheke, konnte ich es umdrehen und Sätze von oder über Proust, manchmal auch über ein Buch von Xavier de Maistre lesen. Meist aber verstand ich nicht viel, weil L. für ihre Arbeit überwiegend französische Forschungsliteratur exzerpiert hatte,
exzerpiert
war das Wort, das sie dafür verwendete. Die beiden letzten Kästen voller Karteikarten, Einkaufszettel für kommende Jahrzehnte, warf ich ein oder zwei Jahre nach ihrem Auszug in die Altpapiertonne im Hof, als sich das bohrende Gefühl, sie könnte tatsächlich nicht mehr
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