Vier Äpfel
jeden Morgen vor dem Kleiderschrank hätte ich mich für einen von beiden entscheiden müssen. Ich kann ja schlecht beide übereinandertragen. 35
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Eines Tages, verheißt mir ein Traum, werde ich so gelassen und entspannt sein, daß ich mich von der Vorstellung verabschieden kann, von den Kleinigkeiten, die ich zu entscheiden habe, hänge mein oder irgendeines anderen Schicksal ab. Gern wäre ich davon überzeugt, daß der Zufallalles entscheidet und es sowieso kommt, wie es kommen muß, es eine Qual der Wahl also gar nicht gibt.
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Vor mir auf dem Boden sehe ich einen kleinen, grünen, quadratischen Zettel liegen, der wahrscheinlich von einem jener Notizblöcke stammt, die, bevor das erste Blatt abgerissen wird, einen quergestreiften, kantengleichen Kubus bilden – quergestreift, weil alle hundert Blatt die Papierfarbe wechselt. Solche Blöcke liegen meist neben dem Telephon, nein, sie lagen dort, denn Telephone befinden sich heute ja meist überall in der Wohnung, nur nicht an der Stelle, wo früher das Telephon stand. Da steht jetzt die Basisstation, in der das schnurlose Gerät wiederaufgeladen wird. Ich bücke mich, hebe den Zettel auf und lese
Früher, in einer romantischen Phase meines Lebens, hätte ich auf den Gedanken kommen können, dieser gefundene Zettel enthalte eine geheime Botschaft. Ich hätte mir etwa vorgestellt, L. habe diesen Zettel hier eigens fallen lassen, um mir etwas mitzuteilen, ja, denke ich jetzt, vielleicht ist es tatsächlich so, vielleicht will sie mir etwas sagen, vielleicht muß ich bloß jeden dritten Buchstaben von vorne oder von hinten abzählen und zu einem Wort zusammensetzen, vielleicht auch jeden siebten von vorne, sieben war ja ihre Lieblingszahl, und kann dann lesen, daß sie es sich überlegt hat und mich wiedersehen möchte, daß sie mich doch noch liebt und wo sie auf mich wartet. Wie ich es auf die Schnelle im Kopf aber auch probiere, es ergeben sich keine Wörter, die etwas bedeuten,
rcöesncmrhbb
…,
ehchrempä
… oder
hsrcbeewre
… – diese Buchstabenfolgen ergeben, so sehr ich mich auch bemühe, leider keinen Sinn, L. wartet wahrscheinlich doch nicht auf mich, und als Ersatz für meine unauffindbare Einkaufsliste kann ich diesen Zettel, den ein Kind geschrieben haben muß, auch nicht gebrauchen; ich habe nicht vor, mir aus trockenen Keksen, Schokolade und Palmin einen Kalten Hund oder eine ähnliche Speise zuzubereiten, ich möchte auch nichts überbacken, ich mag keinen Überbackkäse, auch wenn mir das Wortmonstrum
Überbackkäse
, das ich hier zum ersten Mal in meinem Leben lese, aus Freude am Häßlichen gefällt.
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Und dennoch, schwarze Schuhcreme, auch wenn sie auf dem Zettel eingeklammert ist, sollte auch ich kaufen, meine schwarzen Schuhe, die ich in letzter Zeit vielleicht deshalb kaum getragen habe, müßten dringend geputzt werden. Nur, das weiß ich natürlich, ist es mit dem Kauf von Schuhcreme nicht getan. Ganz von allein, diese Erfahrung muß ich immer wieder machen, putzen Schuhe sich nicht, es reicht nicht aus, Schuhcreme in ihre Nähe zu legen. Als ich im zweiten oder dritten Schuljahr war, lautete die Hausaufgabe einmal, eine sogenannte Vorgangsbeschreibung anzufertigen, wir sollten beschreiben, wie Schuhe geputzt werden. Ein Mitschüler wurde am folgenden Tag getadelt, als er vorlas, daß er die Schuhe auf den Küchentisch stelle, reinige, mit Schuhcreme einschmiere und schließlich mit einem Lappen poliere. Schmutzige Schuhe hätten auf einem Küchentisch nichts verloren, schärfte unsere Lehrerin uns ein, Schuhe putze man nur im Keller oder draußen, auf der Terrasse oder dem Balkon. Bei uns stand der Schrank, in dem sich außer dem Schuhputzzeug auch das Waschpulver und die verklebten Weichspülerflaschen befanden, in der Waschküche im Keller, es gab eine Schublade mit Bürsten, ein Fach für Schuhputzlappen und einen Karton, in dem unzählige Schuhcremetuben und -dosen lagen, die meisten von ihnen halbleer oder eingetrocknet, und alle, ausnahmslos alle waren sie auf beinahe kunstvolle Weise mit Schuhcreme verschmiert. Heute, wenn ich mich einmal dazu durchgerungen habe, meine Schuhe zu putzen, weil mir geputzte, glänzende Schuhe, auch L. hat darauf immer sehr geachtet, eigentlich viel besser gefallen als ungeputzte, und das in Ermangelung eines Schuhputzkellers in der Küche machen muß, höre ich immer die strenge Stimme jener Lehrerin, die sagt, aber doch nicht in der Küche.
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Streichhölzer, ich starre immer noch
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