Vier Äpfel
halt so lange, vielmehr gönnte sie sich diese Stunden, für sie war es eine Art Meditation.
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Die Russin, die Speiseöl sucht, ist den Gang hinuntergegangen. Während ich ihr nachblicke, sehe ich an einem der in großen Abständen zwischen den Regalen stehendenBetonpfeiler einen mir unbekannten Apparat. Ein kleines Schild verrät, daß es sich um einen Strichcodeleser handelt. Um ihn auszuprobieren, halte ich die Milch, so wie eine Zeichnung es empfiehlt, unter den Infrarotscanner, und in der Anzeige erscheint, was ich schon weiß, nämlich daß ich Biovollmilch zu soundsoviel Cent der Liter in der Hand halte. Als ich den Tetrapack zurück in den Korb des Wagens lege, bemerke ich das auf dem Giebel eingeprägte Haltbarkeitsdatum, vorhin am Kühlregal habe ich es, sonst vergesse ich das eigentlich nie, gar nicht überprüft. Erleichtert stelle ich fest, daß ich noch ein paar Tage Zeit habe, die Milch zu trinken, bis zum 22. April. Und mir fällt ein, es ist eine Krankheit, daß ich an einem 22. April vor zwei oder drei Jahren mit L. in Spanien unterwegs war, in einem Mietwagen, mit dem sie in ein ganz bestimmtes Bergdorf fahren wollte, das sie sich unter fünftausend spanischen Bergdörfern ausgesucht hatte. Es war ihr Geburtstag, und sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesen Tag eben dort, in dieser einen Ansammlung halbverfallener Steinhäuser, zu verbringen. Wir haben uns dann aber fürchterlich verfahren, was, warum auch nicht, meine Schuld gewesen ist. 33
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Manchmal wünschte ich mir, ich könnte von gar nichts leben und müßte nichts besitzen, ich hätte keinen Kühlschrank, in dem die Marmelade viel zu oft verschimmelt, und keinen Kleiderschrank voller Anziehsachen, von denen ich viele nie trage, ich wünschte, ich hätte kein Sofa, auf dem ich abends doch nur einschlafe, keinen viel zu schweren Fernseher und auch keine Bildbände und Kataloge von Ausstellungen, an die ich mich nicht erinnern kann. Ich möchte auch keine Vorratslager anlegen, bin ich, L. hat das gern gemacht, ein Eichhörnchen? Gab es das ein oder andere im Angebot, kaufte sie vier Packungen Spaghetti und fünf Dosen Espresso, sie kaufte Olivenöl und Reis auf Halde, vier Flaschen Haarshampoo, fünf Gläser Marmelade und zwölf Beutel Haferflocken, von denen fünf oder sechs noch immer oben auf dem Küchenschrank verstauben, für noch schlechtere Zeiten, und wer weiß, vielleicht kommen die ja bald. Einmal habe ich von einem Mann gelesen, der in seiner Wohnung dreihundert Packungen Hackfleisch eingelagert hatte und verwesen ließ. Das wurde entdeckt, weil es, die dreihundert Packungen paßten natürlich nicht in seinen Kühlschrank, bestialisch stank, was ihn selbst jedoch nicht zu stören schien. Im Zimmer daneben wurde Toilettenpapier gefunden, der gesamte Raum war voll, Tausende von Rollen, bis an die Decke gestapelt. Das hätte bis an sein Lebensende gereicht.
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Seit L. nicht mehr da ist, sammeln sich bei mir zu Hause nur noch Pfandflaschen an. Heute habe ich wieder keine dabei, ich muß also nicht an den Pfandautomaten, der sichin einer Ecke des Supermarkts zwischen Türmen von Getränkekisten versteckt. Mir kommt es sehr entgegen, daß sich die Rückgabe der Pfandflaschen automatisiert hat; der Zeit, in der ich noch an einer Durchreiche klingeln und einem meist jungen Mann oder einer nicht mehr jungen Frau leere Flaschen und Getränkekisten persönlich übergeben mußte, trauere ich nicht hinterher. Es war mir oft ein wenig peinlich, Bierflaschen und nicht besonders sorgfältig gespülte Joghurtgläser anzureichen, weil ich so verriet, was ich alles zu mir nahm. Ich möchte nicht, daß jemand sieht, welche Joghurtsorten ich gegessen und was und wieviel ich getrunken habe. Trotzdem, obwohl es hier keine persönliche Pfandannahme mehr gibt, stehen die meisten Pfandflaschen bei mir auf dem Balkon. Selten nur denke ich daran, sie mit in den Supermarkt zu nehmen, manchmal aber stelle ich ein paar von ihnen unten im Hof neben die Altglastonne, weil ich weiß, daß Pfandflaschensammler auf der Suche nach Leergut dort vorbeischauen. Und auch wenn ich mir mit viel Mühe und Verlogenheit einreden könnte, einem Pfandsammler auf diese Weise eine Freude zu bereiten, fühle ich mich schäbig dabei, weil es eine so gönnerhafte Geste gegenüber denen ist, die vom Leergutsammeln leben müssen. Daß es heute wieder Lumpensammler gibt, macht mich dann und wann fast wütend, allerdings reicht die Wut nicht aus, mich dazu zu bringen,
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