Vier Äpfel
Tagebuch, das ich gar nicht führe und in dem so intime Dinge notiert wären, daß es unbedingt weggeschlossen werden müßte? Meine Uhr? Meine Geburtsurkunde? Quittungen, Kassenzettel und Belege, auf denen steht, was ich gekauft habe? Mein Großvater hatte Bargeld und Geschäftsunterlagen in seinem Tresor, der im Büro mit den Rollschränken stand, ganz in der Nähe der Fensterbank zum Wintergarten, auf der er seine grünen Tomaten nachreifen ließ. Mein Geld liegt auf der Bank, Geschäftsunterlagen habe ich keine, und ihren Schmuckhat L. mitgenommen, darunter auch die Armbanduhr meiner Großmutter, die ich ihr geschenkt hatte. Ich glaube, ich besitze gar nichts, was ich in einem Tresor verwahren müßte.
Microchipgesteuertes Sicherheits-Tastenschloß für 3 - 8stelligen Code
steht auf der Verpackung und darüber, in fetten, gelbleuchtenden Buchstaben,
Keine Chance für Langfinger!
, worüber ich schon wieder beinahe lachen muß. Nicht einmal der Räuber Hotzenplotz hätte Schwierigkeiten mit so einem Tresor.
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Komme ich aus diesem Supermarkt nie wieder heraus? Muß ich hier vielleicht für immer Runden drehen? Ist das mein Schicksal? Bin ich dazu verdammt, immer wieder einzukaufen, die Einkäufe nach Hause zu tragen, in den Kühlschrank zu räumen und einen Teil dort zu vergessen, bis sie schlecht geworden sind? Bin ich verurteilt, zu kochen, zu essen, zu schlafen, wieder aufzustehen und den Müll plus hin und wieder ein paar Pfandflaschen hinunterzubringen? So betrachtet, ist das Leben langweilig, so langweilig, daß ich mich sofort umbringen müßte, wäre da nicht die Hoffnung, zwischen zwei Gängen zur Mülltonne könnte vielleicht doch noch etwas passieren. Und auch ich bin so programmiert, daß ich glaube, dieses Etwas-Passieren müßte mit einer Frau zusammenhängen. Etwas in mir glaubt noch immer, daß sich mit einer zweiten großen Liebe alles lösen und dann fügen könnte. Leider kann ich diese große Liebe hier im Supermarkt nicht kaufen, Mülltüten aber könnte ich mitnehmen, ich glaube, die stehen sogar auf dem Zettel, den ich nicht dabeihabe. An Mülltüten denke ich sonst immer erst, wenn keine mehr da sind und ich mitEinkaufstüten improvisieren muß, die eigentlich nicht in den Tretmülleimer passen, den L. in der Küche stehengelassen hat. Sie hat ihn, sie ist immer sehr stolz auf diesen Kübel gewesen, wahrscheinlich bloß vergessen. Er stammt, wie sie immer wiederholte, aus einem alten, leerstehenden Krankenhaus, in das sie angeblich einmal eingebrochen ist. Vielleicht hatte sie ihn aber auch auf dem Flohmarkt gekauft.
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In einem Einkaufswagen, der an mir vorbeirollt, sehe ich eine Halbliterflasche frischgepreßten Kiwi-Orangen-Saft aus der Kühltheke, zwei Fenchelknollen, eine Tüte Biomöhren, zwei Flaschen stilles Wasser mit Orangenaroma und Naturjoghurt im Glas. Er wird von einer Frau geschoben, die eines dieser Sommerkleider trägt, in denen sich der Umriß eines Körpers manchmal, bei bestimmten Bewegungen, für Bruchteile von Sekunden abzeichnet, bevor der Stoff – die Wirklichkeit kennt kein Standbild – wieder ganz anders fällt. Einen winzigen Augenblick sieht es so aus, als wäre die Frau nackt. Sie ist es nicht. Ich habe nur einen Umriß gesehen, eine Erscheinung im Sommerkleid – warum, muß ich mich fragen, habe ich einen Wintermantel an? Ist es Frühling geworden, und ich habe es nicht bemerkt? 39 Die Fremde, sie trägt ihr dunkles Haar am Hinterkopf zusammengebunden, bewegt sich Richtung Kasse, ich rieche, ich kenne es, ihr Parfum.
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Ich nehme Fahrt auf und eile dem Duft der Frau hinterher. Die Tische und Stapel mit den Sonderposten lasse ich hinter mir und gelange in den Kassenbereich. An einer der Eistruhen lehnt, aber das sieht sicher nur so aus, es kann nicht sein, Anke Schwarzbeck, die Drogistentochter, meine große Kindergartenliebe, die weggezogen ist, nachdem ihr Vater seine Drogerie schließen mußte. Sie scheint auf mich zu warten und winkt mir zu. Lachend höre ich sie sagen, hier bin ich, sie sagt es, als wäre sie nicht bis eben dreißig Jahre fortgewesen, sondern bloß ein paar Minuten. Sie trägt eine hellbraune Wildlederbluse mit Cowboyfransen und einen kurzen dunkelbraunen Rock, ebenfalls aus Leder oder einem lederähnlichen Material. Und Cowboystiefel. Offenbar ist sie, ich bin überrascht, ein Cowgirl geworden. Zu sonderbar, daß ich sie überhaupt erkenne. Dreißig Jahre habe ich sie nicht gesehen, und doch, sie ist es, ich bin mir
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