Vier Äpfel
absolut sicher. In meinem Kinderphotoalbum gibt es Photos von ihr als Indianerin und im Robin-Hood-Kostüm, ein anderes Bild, an das ich mich erinnere, zeigt sie und mich, vier oder fünf Jahre alt, auf der Wiese hinter unserem Haus. Sie hält einen Lutscher in der Hand, ich habe meinen im Mund, nur der Stiel, ein schmaler, weißer Strich, ist zwischen meinen Lippen zu sehen. Sie trug damals Zöpfe links und rechts und einen Pony, und sie lachte, wie sie nun hier,an der Eistruhe lehnend, lacht – als ich sie aber ansprechen und ihr die Hand geben will, ist auch sie verschwunden.
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Ich höre eine Frauenstimme. Eine Mutter erklärt ihrem Kind, einem Mädchen, das eine Schmetterlingshaarspange trägt, warum es jetzt kein Eis bekommt. Das Kind quengelt dazwischen, es kümmert sich nicht um die Begründungen der Mutter, es will keine Argumente, es will ein Eis. Warum kein Eis, das habe auch ich nie verstehen können, ich wollte immer alles haben und half mir zur Not selbst, denn ich wußte, wo in der Tiefkühltruhe im Keller das Speiseeis versteckt war: unter den Drahtkörben, in denen sich für mich uninteressante Gefrierbehälter mit Gulasch oder Sauerbraten befanden. Einen Teelöffel, mit dem ich das Eis gleich aus der großen Zehn-Liter-Packung essen konnte, hatte ich dabei, den hatte ich, oben in der Küche, ganz unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden lassen. 40
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An einer der Kassen sehe ich den Mann, der einen Sahnebecher fallen ließ, er hat bezahlt und seine Einkäufe in einem Rucksack verstaut, wahrscheinlich ist er mit dem Fahrrad da und wird sich sein rechtes Anzugshosenbein draußen in die Socke stecken. Ich wünsche ihm, daß der neue Sahnebecher im Rucksack nicht kaputtgeht, es kommt ja vor, daß sich in einer randvollen Tasche oder Tüte die spitze Kante einer Verpackung durch die Deckelfolie eines Joghurt- oder Sahnebechers bohrt – noch ein Grund, Gläser zu kaufen, die allerdings schwerer sind und gespült zurückgetragen werden müssen. Die Kasse mit dem überbreiten, süßwarenfreien Gang, durch den auch Kinderwagen passen, ist nicht geöffnet. An der Expreßkasse für Kunden, die weniger als fünf Teile zu bezahlen haben, stehen zwei Personen an. Ich habe, ich zähle nach, mehr in meinem Wagen, darf mich dort also nicht anstellen, aber das macht nichts, ich möchte ohnehin zu meiner Lieblingskassiererin an der Kasse ganz links. Vor mir in der Schlange, ich habe sie nicht aus den Augen verloren und überlege noch immer, wie ihr Parfum wohl heißt, steht die Frau im Sommerkleid. Ich hätte nun Zeit, sie zu betrachten, mein Blick wandert aber hinüber in die Parallelschlange und bleibt an einem Einkaufswagen hängen, in dem mehrere bauchige Zwei-Liter-Flaschen Coca-Cola, einige Packungen Fertigstreuselkuchen, eine Tiefkühltorte und zwei Kartons Mohrenköpfe liegen. Die weiße Zuckerglasur des Streuselkuchens hat die Innenseite der ihn umhüllenden Klarsichtfolie verschmiert, die Streusel sind nur weichgezeichnet zu sehen. Die Finger der Hand, die ungeduldig auf der Schiebestange des Wagens herumtrommeln, sind die Finger eines untersetzten Mannes mit Bauch. Sieht aus, als kaufe er für einen Kindergeburtstag ein.
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Natürlich steht nicht
Mohrenköpfe
und auch nicht
Negerküsse
auf den beiden Kartons, die der Mann in seinem Wagen liegen hat. Mohrenkopf, das ist mir bisher nie aufgefallen, ist die ungleich grausamere der beiden Bezeichnungen, die in meiner Kindheit noch gebräuchlich waren. Von Mohrenköpfen ist es nicht weit zu Schrumpfköpfen, Mohrenkopfbrötchen, die es in den Hofpausen – gesunde, ausgewogene Ernährung – beim Hausmeister zu kaufen gab, waren vielleicht Schrumpfkopfbrötchen. Auf Kindergeburtstagen wurde, erinnere ich mich, nicht selten ein Negerkuß- oder Mohrenkopfwettessen veranstaltet, bei dem die Hände nicht benutzt werden durften, sie blieben im Rücken verschränkt – ein Spiel, das mir eines Tages allerdings zu langweilig wurde. Ich kam auf die Idee, es war auf dem Kindergeburtstag des Mädchens von nebenan, das ich nicht besonders mochte, den Strohhalm in meinem Glas an einer der Geburtstagskerzen anzuzünden und alle anderen Kinder zum Strohhalmrauchen anzustiften. Weil die Halme natürlich nicht aus Stroh, sondern aus Kunststoff waren, qualmte und stank es bald fürchterlich in dem mit einigen Luftschlangen dekorierten Spiel- und Partykeller, und zwei oder drei Kinder mußten wegen angeblicher Rauchvergiftung, solche Simulanten, zum Arzt. Mich
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