Vier Arten, die Liebe zu vergessen
perfekten Partners auftauchte.
Manchmal begriff Michael in solchen Momenten, dass er die Pärchen
beneidete: um die Zukunft, die sie miteinander zu haben glaubten oder wirklich
haben würden, um die Gegenwart, in der sie füreinander das Wichtigste waren, um
die Vergangenheit, die sie so gern und leichthin hinter sich lieÃen, weil jetzt
gerade der Hormonsturm tobte und das Leben für eine Weile so war, wie es sein
sollte â sich selbst spielte er jedoch den Weisen und Abgeklärten vor, um sich
nicht eingestehen zu müssen, dass er auÃen vor war.
Um darauf mit der Nase gestoÃen zu werden, war Venedig der richtige
Ort. Hier wurde man tagaus, tagein von romantisch gestimmten Verliebten,
Hochzeitsreisenden und Ehebrechern darauf hingewiesen, dass Mann und Frau, wenn
sie auch nicht zusammen passen mögen, so doch auf
jeden Fall zusammen gehören .
Er hatte die angebrochene Flasche Cannonau und ein Glas mitgebracht
und schenkte sich ein. Als er das Glas zum Mund führen wollte, traf sein Blick
den eines der drei Männer in schwarzen Anzügen, der seinen Pappbecher hob und
ihm über den Platz hinweg zuprostete.
~
Weil sie kein Geld hatten, um sich Anzüge für ihr Hotelengagement
zu kaufen, traten sie in Kellneruniformen auf. So konnten sie die Entscheidung
noch hinausschieben, ob sie nun Smokings mit Fliege oder schwarze Anzüge mit
schmalen Krawatten tragen sollten. Michael und Bernd waren für die Anzüge,
Thomas strikt für Smokings, und Wagner hatte keine Meinung dazu. Mehrheitlich
wollten sie nichts entscheiden, es musste einstimmig sein.
Natürlich war aus den Auftritten zur Kaffeezeit kein Glamour zu
destillieren, aber es machte ihnen SpaÃ, es gefiel dem Publikum, es gefiel der
Jazzband, die vor und nach ihnen spielte und die Michael und Thomas noch vom
letzten Jahr kannten, und Elekroluchs lernte einiges dazu. Thomas entpuppte
sich als schlagfertiger Conferencier, der mit verschüttetem Kaffee und fallenden
Tabletts ebenso gut klarkam wie mit kleinen Kindern oder vorlauten Gästen, die
ihren Humor unter Beweis stellen wollten â er gewann fast jeden Wortwechsel und
meisterte Missgeschicke und Störungen mit Bravour.
An diesen Nachmittagen lernten sie auch, ihre Figuren zu
stilisieren. Wagner spielte den Einfältigen, Bernd den Schlaumeier, der sich in
scheinbarer Konkurrenz zu Thomas, dem dominanten Anführer, aufrieb (und immer
unterlag), Michael war der Brave, der die scheinbaren Eklats immer scheinbar zu
schlichten versuchte â nach zwei Wochen hatten sie einiges an Professionalität
dazugewonnen und fühlten sich sicher, willkommen und wohl auf der Bühne.
Und sie wurden ihre Unschuld los.
Bernd an eine Holländerin, die ihm am Vormittag zuvor das
Grasrauchen beigebracht und damit den Auftritt am Nachmittag erheblich
erschwert hatte, Thomas zur gleichen Zeit an ihre Schwester, die mit ihm in den
Personaltrakt schlich, weil Bernd im gemeinsamen Hotelzimmer zu Besuch war,
Wagner drei Tage später an eine Frau aus Berlin, deren Mann nur an den Wochenenden
ins Hotel kam, und Michael schlieÃlich kurz vor Neujahr an ein Lehrmädchen, dem
schon zweimal bei ihrem Auftritt das Tablett aus den Händen gerutscht war. Ihre
Handflächen waren schweiÃnass, was Michael nicht störte und kaum auffiel, da er
glaubte, das gehöre zum Sex. Sie war sehr unerfahren, aber das konnte ihm nicht
auffallen, da er selbst all das, was er nun wirklich erleben durfte, bis dahin
nur in seiner Phantasie durchgespielt hatte und jede von diesen
Phantasieerlebnissen abweichende Realität als etwas zu Lernendes begrüÃte.
Keiner von ihnen prahlte mit seiner Eroberung, aber keiner konnte
seine Freude darüber verbergen, endlich im Leben angekommen zu sein. So diskret
sie es vermochten, aber auch so euphorisch, wie es nun mal der Sensation
entsprach, erzählten sie einander, was sie sonst niemandem je erzählt hätten,
und sie entdeckten dabei, dass sie Freunde waren. Und dass sie zusammen etwas
besaÃen, was ihnen alleine so nicht zugeflogen wäre: Charisma. Sie ragten
heraus, waren etwas Besonderes, zogen Blicke auf sich und waren auf einmal
interessant fürs andere Geschlecht.
In diesen Weihnachtsferien war eine Art Nebel verflogen, in dem sie
bisher gestochert hatten, auf der Suche nach irgendetwas, das sie sein würden,
erobern konnten, lernen sollten â sie kamen zurück zur Schule mit der
Selbstsicherheit,
Weitere Kostenlose Bücher