Vier Arten, die Liebe zu vergessen
draus machen«, sagte Frau Buchleitner.
»Haben wir schon«, sagte Thomas, dessen Mundwerk meist noch
schneller funktionierte als sein Verstand, »einen Zeitvertreib.«
»Ihr könntet über die Weihnachtsferien im Hotel singen. Die Gage
wäre nicht besonders, und das Publikum trinkt Kaffee und schmatzt und redet
nebenher, aber es wäre eine Art Praxistest, was meint ihr?«
Sie sahen einander an. Und zuckten mit den Schultern. Das bedeutete:
klar, warum nicht.
»Abgemacht?«, fragte Emmi.
Sie zuckten mit den Schultern und nickten gleichzeitig mit den
Köpfen.
»Dann frag ich eure Eltern, ob sieâs erlauben.«
»Meine sicher«, sagte Michael.
»Meine auch«, sagte Thomas.
»Meine zahlen noch was dazu«, sagte Bernd sarkastisch, und nur
Wagner fragte scheu: »Darf meine Mutter vielleicht mal zu Besuch kommen?«
»Natürlich«, sagte Emmi, »die anderen Eltern auch.«
»Die wissen was Besseres«, sagte Bernd, und Thomas und Michael nickten.
In den nächsten Wochen übten sie wie besessen und schliffen und
polierten ihr Repertoire. Sie übten Tricks ein wie unsichtbares Einzählen und
verstecktes Dirigieren und waren am Ende des Schuljahres selbst von ihrer
Qualität überzeugt.
»Wir klingen dicht wie ein Staubsauger«, sagte Michael nach einer
der letzten Proben vor den Ferien.
»Und zwar wie ein teurer«, sagte Bernd.
»Miele«, bot Wagner an.
»Elektrolux«, sagte Thomas.
»Das wäre doch ein Bandname«, fand Michael, »mit CH statt X . Elektroluchs.«
»Klasse«, fand Thomas, und sie trugen diesen Namen, bis Wagner viel
später mit seinen Vogelstimmen daherkam und sie zu Nachtigallen wurden.
~
Die hölzerne Brücke an der Accademia war so voll wie sonst
nur die Rialtobrücke. Das Feuerwerk würde erst um Mitternacht gezündet, aber
schon jetzt, kurz nach elf, hatten sich so viele Leute diesen Platz gesichert,
dass Michael Zweifel an der Statik befielen. Er lieà die Brücke links liegen
und ging weiter auf der Dorsoduro-Seite bis Santa Maria della Salute.
Hier war das Gedränge nicht so groÃ. Eine chinesische Reisegruppe,
drei Männer in dunklen Anzügen, einige Mönche in brauner Tracht und etliche
Paare, die umarmt oder Händchen haltend standen oder auf den Kirchentreppen
saÃen, warteten und waren einstweilen noch mit sich selbst beschäftigt. Michael
fand einen Platz auf den Stufen und setzte sich.
Die Tische an den Ufern und die Boote im Kanal waren auf der anderen
Seite â dort fände jetzt keine Maus mehr einen Stehplatz â das Feuerwerk konnte
man von hier aus sehen, das Fest nicht, aber Platz um die Schultern war Michael
wichtiger, als mittendrin zu sein.
Unter ihm saà ein Pärchen und unterhielt sich leise auf Französisch.
Sie brachten einander zum Lachen und boxten sich hin und wieder gegenseitig an
die Schultern oder in die Flanken. Sie hatte glattes schwarzes Haar, schmale
Augen und immer wieder ironisch geschürzte Lippen, und er sah auf den ersten
Blick wie ein Soldat oder Security-Mann aus â erst wenn man seinen weichen Mund
und die schlanken, langen Finger sah, erkannte man seine raspelkurzen Haare als
das, was sie in Wirklichkeit waren: ein Versuch, wenigstens aus der Ferne
männlich zu wirken.
Michael beobachtete die beiden. Sie waren eines der rührenden Paare.
Es gab auch deprimierende, und er war sich nie so recht sicher, ob nicht allein
seine Stimmung jeweils den Unterschied machte. Den rührenden Paaren wünschte er
Glück miteinander, den deprimierenden die Chance, einander loszuwerden.
Er selbst hatte sich schon seit so langer Zeit in seiner idealen
Liebe eingerichtet, diesem Zustand, in dem die Phantasie alles und die
Wirklichkeit nichts zu sagen hatte, dass ihm beim Anblick von Paaren meist
deren Fremdheit ins Auge fiel. Sie flüsterten einander zwar ins Ohr, aber
eigentlich reichte ein Megafon nicht aus, um die Entfernung zwischen ihnen zu
überbrücken. Auch sie lebten in ihrer Phantasie, hielten den anderen für
jemanden, der er nicht war, spielten einander jemanden vor, der sie selbst
nicht waren, sehnten sich so sehr nach Paarung, dass ihnen alle Selbsterkenntnis
nichts mehr bedeutete, und hatten nur manchmal das Glück, der Mensch zu werden,
den sie anfangs für den anderen gespielt hatten. Oder denjenigen noch immer zu
lieben, der schlieÃlich hinter der Maske des
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