Vier auf dem Laufsteg
aus.
»Modeln hat eben seine eigenen Regeln. Das würdet ihr sowieso nicht verstehen. Aber ich habe schwere Knochen, und auf Fotos sieht man immer fünf Kilo dicker aus, als man eigentlich ist. Ich werde also weder die Nudeln noch das Knoblauchbrot essen. Ende der Diskussion.«
»Nein, verdammt noch mal«, rief ihre Mutter aufgebracht und knallte ihr Glas auf den Tisch. »Ich bin mir sicher, dass diese Mangelernährung die Hauptursache für deine schlechte Laune ist. Mir ist es völlig egal, was du isst, wenn du in London bist, aber in diesem Haus isst du, was auf den Tisch kommt. Und du isst es auf!«
»Tu, was deine Mutter sagt«, fügte ihr Vater noch hinzu. »Du bist ja nur noch Haut und Knochen.«
Das denkst auch bloß du .
Es war schon schwer genug, jeden Abend dabei zuzusehen, wie Irina sich mit Brathähnchen vollstopfte, aber diesen Teller mit ihrem Lieblingsessen wegzuschieben, war fast unmöglich. Doch Laura schaffte es irgendwie. Es stand schließlich sehr viel auf dem Spiel.
»Ich werde das nicht essen. Ich esse die Soße, und ich esse auch noch ein paar Tomaten, wenn welche übrig sind, aber keine Kohlenhydrate.«
»Du stehst erst von diesem Tisch auf, wenn du den Teller leer gegessen hast«, beharrte ihre Mutter und würgte eine Gabel Nudeln herunter, als hätte jemand Arsen darüber gestreut. »Und herzlichen Dank, dass du uns das Essen komplett vermiest hast.«
Laura sah ihrer Mutter fest in die Augen, kratzte demonstrativ eine Nudel von einem Pilzstückchen und schob sich den Pilz in den Mund.
»Willst du mich zwangsernähren?«
»Laura, jetzt mach dich doch nicht lächerlich«, versuchte ihr Vater zu vermitteln. »Iss einfach deine Spaghetti und vergiss das Knoblauchbrot.«
»Hör bloß damit auf«, fauchte ihre Mutter und drehte sich zu ihm um, wodurch Laura eine Atempause bekam. »Immer gibst du ihr nach.«
»Stimmt doch gar nicht. Ich würde nur gern in Ruhe und ohne Magenkrämpfe essen.«
»Ich werde die Spaghetti nicht essen.« Mittlerweile war es eine Frage der Ehre. »Aber die Soße ist sehr lecker.«
Die Soße war wirklich gut, aber nicht besonders sättigend. Laura presste ihre flache Hand gegen den Bauch, der laut und deutlich meldete, dass er mehr Essen haben wollte, und zwar gleich. Es wäre ja so einfach, die Spaghetti um die Gabel zu wickeln und zu essen. Sie konnte die kleinen Soßentropfen daran kleben sehen und, ach, es war doch alles sowieso egal, sie würde morgen früh einfach doppelt so lange laufen …
Aber plötzlich hörte sie eine leise, böse Stimme in ihrem Kopf, die verdächtig wie Heidis klang.
»Sie passt ja noch nicht mal in die Musterstücke. Bisher hatte sie noch keine einzige Buchung. Sie ist zu dick für ein Model. Sie ist zu dick für egal was.«
Dann erschuf sie vor ihrem inneren Auge eine schlanke und glückliche Laura (ein Tipp von der schrägen Abnehm-Hypnose-CD, die sie im Zug gehört hatte). Ihr neues schlankes, glückliches Ich schwebte während der Mailänder Modewoche in einem Hauch von weißem Chiffon den Laufsteg hinab. Sie bestand nur aus Wangenknochen und endlos langen Beinen und konnte perfekt über den Laufsteg gleiten.
»Möchtest du vielleicht eine Tasse von meinem grünen Tee probieren?«, fragte Laura ihre Mutter in der Hoffnung, den Frieden wiederherzustellen. »Ich versprech dir, er schmeckt besser, als er sich anhört.«
»Nein, danke«, zischte ihre Mutter. »Dein Vater und ich werden jetzt Tiramisu essen, trotz des wahnsinnig hohen Kaloriengehalts, und du kannst ja schon mal mit dem Abwasch anfangen.«
»Gut«, sagte Laura und schob ihren Stuhl zurück.
»Gut«, echote ihre Mutter und kratzte den großen Berg Nudeln von Lauras Teller in die Schüssel zurück. »Und dann kannst du in dein Zimmer gehen.«
Es war merkwürdig, wieder in ihrem Zimmer zu sein. Obwohl es ungefähr zehnmal so groß war wie ihr Wohnschrank in London, war sie diesem Zimmer irgendwie entwachsen.
Laura lag auf dem Bett und atmete den vertrauten Duft von teurem Weichspüler ein und nicht den von dem Billigwaschpulver, das sie in London benutzte, und starrte die Bilder an ihrer Wand an. Ein Foto davon liebte sie ganz besonders. Es zeigte drei Mädchen mit fliegenden Haaren, die auf Fahrrädern eine Straße hinuntersausten. Ihre Gesichter hatten sich zu fröhlichem Kreischen verzogen. Man konnte sie zwar nicht hören, aber fast kam es einem so vor, weil das Foto die Stimmung perfekt einfing. Man fühlte förmlich, wie das Haar vom Fahrtwind
Weitere Kostenlose Bücher