Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
ihr egal zu sein. »Was macht ihr hier?«
»Christoph besuchen.«
»Zusammen?«
»Nein. Wir haben uns zufällig getroffen.«
»Zufällig? Nachts an seinem Grab?«
»Ja«, sagte ich. »Dass du und wir uns hier treffen, ist doch auch Zufall.«
»Dass du hier bist, verstehe ich.«
Maik sagte noch immer nichts, auf seinem Gesicht zeigten sich wieder Schuldgefühle.
Auch Lena schwieg.
»Lasst mich eine Minute allein mit ihm«, verlangte Selina.
Stumm traten wir ein paar Schritte zurück.
Sie ging zwischen uns hindurch und vor Christophs Grab auf die Knie. Langsam legte sie die Rose mittig vor den Stein, dreimal verschob sie sie um ein kleines Stück, als wäre es Christoph wichtig, in welchem Winkel zum Marmor sie lag. Als wäre er seine Mutter.
Ich starrte Selina auf den gekrümmten Rücken, konnte jedoch nicht erkennen, ob die Schultern bebten, ob sie weinte. Wenn, dann nur ganz leise, sie hatte sich schon immer gut im Griff gehabt. Falls sie etwas sagte, dann flüsterte sie, ich hörte nichts. Ich hätte es auch nicht verstehen wollen. Ich wollte auch ihr Gesicht nicht sehen, den Schmerz, der sich dort zeigen musste. Zugleich wollte ich sie halten und trösten, obwohl wir meist vermieden hatten, uns zu umarmen. Es war auch mein Schmerz, und ich wusste keinen Trost und wusste nicht, wie ich sie halten sollte. Ich fühlte mich linkisch und unnütz und sah weg, in die Dunkelheit und zu Maik und Lena.
Maik blickte verlegen zu Boden und ließ die Schultern hängen.
Lena biss sich auf die Lippe, ihr Kinn zitterte.
Ich sah wieder zu Selina, ich konnte nicht anders, und dann an ihr vorbei und zum Stein, der nichts war als ein massiger, dunkler Fleck im Schatten schwerer, dichter Äste. Äste, die nie ihre Nadeln verloren, durch die nie die Sonne scheinen würde. Nur die tief stehende Abendsonne konnte Christophs Grabmal kurz berühren, bevor sie versank, am Morgen stand die nahe östliche Mauer im Weg.
Christoph lag neben alten Wurzeln, über die bei der Beerdigung so tiefsinnig palavert worden war, obwohl Christoph niemals hatte Wurzeln schlagen wollen, zumindest nicht hier. Und das sollte der Ort sein, der fortan an ihn erinnern sollte?
Es war so falsch, dass mir richtig übel wurde. Ich presste die Unterarme gegen den Bauch und schluckte wieder und wieder, um den galligen Geschmack in mir zu begraben. Auf keinen Fall wollte ich mich hier übergeben, das war das Letzte, was ich Christoph antun wollte. Und doch hätte ich kotzen können. Auch wenn sich mein Magen wieder beruhigte, der Hass auf den schwarzen Stein blieb.
Auf den Stein, die Beerdigung, die Party, auf Kev und Gerber.
Ich fragte mich, ob Selina von Christophs Plänen, von hier abzuhauen, gewusst hatte. Wenn er mir davon erzählt hatte, hatte er sie nie erwähnt, und ich hatte nicht nach ihr gefragt. Er hatte auch nie ausdrücklich gesagt, dass er sie nicht mitnehmen wollte.
Selina erhob sich und kam auf uns zu. Kurz dachte ich, sie würde wanken, doch sie hielt sich gerade, die Wangen waren trocken.
»Warum haben seine Eltern ihn hier begraben?«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich versteh nicht, warum sie ihm das angetan haben.«
»Ich hasse die Tannen und Mauern auch«, sagte ich. »Sie hätten leicht einen anderen Platz auf dem Friedhof finden können.«
»Einen anderen Platz? Wieso einen anderen Platz?«
»Wieso wieso? Er hätte bestimmt einen Platz mit mehr Sonne gewollt. Und ohne Wurzeln.«
»Er hat eine Seebestattung gewollt.«
»Was?« Lena, Maik und ich starrten sie an.
»Wusstest du das nicht?« Selina war irritiert. »Das stand in seinem Testament.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste von dem Testament, kannte aber den Inhalt nicht. »Ich wusste, dass er sich Don’t fear the Reaper für sein Begräbnis gewünscht hat. Das sie nicht gespielt haben, weil es nicht angebracht sei, unangemessen für eine Beerdigung.«
»Arschlöcher«, flüsterte Selina leise. So was hörte man nicht oft von ihr.
»Christoph hatte ein Testament?«, fragte Maik. »In seinem Alter?«
»Nichts Offizielles«, erklärte ich. »Ohne Notar und so, trotzdem ist es gültig. Ich glaube, er hat mit zwölf damit angefangen, jedes Silvester ein neues. Gute Vorsätze fand er albern. Was soll ich mir groß vornehmen und Pläne schmieden, die ich nächste Woche wieder über den Haufen werfe? , hat er immer gesagt. Vielleicht lag es auch am Tod seiner Cousine, die ist an Leukämie gestorben, als er elf oder zwölf war. Sie war jünger, aber nicht viel. Und
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