Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
daneben.
Zitternd drehte sich die Frau zu ihren Kindern um und sagte etwas. Dann stieg sie aus. Ihr Gesicht war leblos blass wie die hellbeige Bluse mit der albern großen Schleife, nur die bebenden Lippen waren künstlich rot. Sie schloss die Tür und machte einen vorsichtigen Schritt auf uns zu, stammelte Satzfetzen voller Bedauern, und dann brach es halb jammernd, halb anklagend aus ihr hervor: »Trop vite, trop vite!« Als ob wir zu schnell gefahren wären.
Als ob wir schuld wären.
Wir!
Gerber!, schoss es mir durch den Kopf, und ich drehte durch. Ich sprang vom Roller, ließ den Helm einfach fallen und stürzte auf sie zu. »Du bist schuld! Du! Nicht wir!«
Speichel spritzte aus meinem Mund auf ihre Bluse, auch in ihr Gesicht.
Sie wich zurück, bevor ich sie stoßen konnte, bis sie gegen die Fahrertür stieß und nicht weiterkonnte. Sie wehrte sich nicht, ließ meine Wut einfach geschehen, die Arme halb erhoben, mehr kraftlos als zur Abwehr, ein in die Ecke gedrängtes Tier. Ein Fluchttier. Tränen quollen aus ihren Augen.
»Sie könnten tot sein! Tot!« Ich weiß nicht, warum ich nicht zuschlug. Weil sie eine Frau war? Weil sie so reglos dastand? Dabei machte es mich noch wütender, dass sie sich nicht wehrte. Ich hämmerte mit der Faust gegen das Fenster. Es klang dumpf, nichts splitterte.
Hinter der Scheibe plärrten die Kinder.
Die Frau schluchzte erstickt, nicht einmal ihre Kinder konnte sie verteidigen. Goldene Ohrringe mit glitzernd roten Steinen zappelten in ihren Ohren, sie schienen das einzig Lebendige an ihr zu sein. Sie japste nach Luft.
»Tot!« Ich hob die zur Faust geballte Rechte und hatte das Gefühl, ich würde gleich losheulen. Hilflos wie vor Gerbers Haus stand ich da und konnte nichts tun.
»Tot!« Wieder schlug ich gegen das Auto, die frischen Wunden auf meinen Fingern platzten auf. Blut floss meine Hand hinunter.
»Jan!«, schrie Maik, aber ich ließ die Hand nicht sinken. Ich nahm seinen Schrei nicht einmal richtig wahr.
Warum tat diese Frau nichts? Selbst ihr Weinen war stumm, als dürfte es niemand hören.
»Jan!« Lena griff mir in den Arm, fast sanft, aber mit Nachdruck. Ihre Hand zitterte. »Sie leben. Niemand ist tot. Hörst du? Niemand ist tot.«
»Christoph.«
»Ja, Christoph. Aber Christoph ist nicht hier. Maik und Selina geht’s gut. Christoph ist nicht hier.«
Endlich kam der Satz bei mir an. Ich ließ die Faust sinken, mein Zorn fiel in sich zusammen, und ich fühlte nur noch Scham. Ich prügelte mich eigentlich nicht, und schon gar keine Frauen, die sich nicht wehrten. Herumschubsen ließ ich mich nicht, aber ich fing auch nicht an.
Ich verstand mich selbst nicht.
Ich stolperte zwei Schritte zurück, dabei stammelte ich Entschuldigungen.
Noch immer verängstigt starrte die Frau mich an, nickte aber vorsichtig. Die rot-goldenen Ohrringe schimmerten in der Sonne.
»Wir haben kürzlich einen Freund verloren«, erklärte Lena. »Ein Unfall.«
»Das tut mir sehr leid.« Ein Teil der Angst schwand aus dem Blick der Frau, aber nicht alles. Langsam löste sie sich vom Auto, schien aber bereit, jederzeit zu fliehen.
Ich wich noch drei weitere Schritte zurück, die gespreizten Hände vor mir, als müsste ich beweisen, dass ich unbewaffnet war. Auf dem Handrücken war Blut.
Die Kinder drinnen weinten und waren noch immer in ihren Gurt geschnallt.
Ein Sportwagen raste vorbei, ohne groß abzubremsen. Der Beifahrer glotzte zu uns herüber.
»Puh!«, stöhnte Maik und kam zu Lena und dem Auto und der Frau. Den Helm hatte er abgenommen. »Das war haarscharf.«
»Geht es?« Die Frau klang ernstlich besorgt.
»Nichts passiert«, sagte er, und ich fragte mich, ob er nur so ruhig reagierte, weil ich mich so aufgeführt hatte.
»Nein!«, rief Selina. »Christoph!«
Lena verdrehte die Augen. Gerade eben hatte sie mir erklärt, dass Christoph nicht hier war, und nun fing die Nächste damit an.
»Das Plastik ist gerissen!« Verzweifelt presste Selina die Hände in die eingedrückte Satteltasche. »Wir brauchen einen neuen Beutel!«
»Was?« Flehend wandte sich Lena an die Französin. »Haben Sie einen Beutel im Auto? Bitte!«
»Was?«, fragte sie verwirrt.
»Eine Tüte. Plastiktasche, was auch immer. Schnell!« Lena drängte wie der Arzt bei einer Not-OP.
Ich stand noch immer abseits und rührte mich nicht. Maik stürzte humpelnd zu Selina und bückte sich zur Satteltasche hinunter.
»Aber …«
»Bitte!«
»Zwei!«, rief Selina. »Am besten zwei!«
Dieses
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