Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Christoph.«
»Diesmal mit meinem Beutel«, sagte Selina sofort und hob ihn aus der Satteltasche, bevor ein anderer es tun konnte. Sie warf einen kurzen, herablassenden Blick auf Lena.
»Und du meinst, die Satteltaschen sind noch da, wenn wir zurück sind?«, fragte die.
Wortlos wickelte Maik den Gürtel von seinem Handgelenk, steckte ihn in die Satteltasche und warf sie sich über die Schulter, ich behielt den Rucksack auf dem Rücken.
Gemeinsam schlenderten wir über eine breite Brücke auf eine große, bebaute Insel in der Seine, das alte Stadtzentrum, wie der selbst ernannte Stadtführer Maik uns erklärte. Sein Humpeln fiel kaum auf. Ich lief neben ihm, weil ich kein Mädchen neben mir haben wollte. Sie gingen voraus, Lena vor mir, also sah ich nicht geradeaus, sondern schräg zu Selina, und dann noch schräger raus aufs Wasser. Wie konnte man eine ganze Stadt zum Ort der Liebe erklären? Die Steine der Brücke waren leuchtend hell.
»Warum springst du eigentlich von Brücken?«, fragte ich Maik.
»Springen ist wie fliegen, nur halt vertikal.«
»Klar. Und jetzt mal im Ernst.«
»Das ist mein Ernst!« Er blieb stehen und wandte sich mir zu. »Richtig fliegen kann ich nicht, nur mit Gleitschirm und so. Also springe ich. Ein, zwei Sekunden habe ich keinen Boden unter den Füßen und fühle mich schwerelos.«
»Und dafür riskierst du dein Leben?«
Er zuckte mit den Schultern und ging weiter.
»Hättest du dir wirklich in den Kopf geschossen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und jetzt rennst du rum, klopfst Sprüche, ballerst auf Apfelbutzen und zerrst Christophs Asche bei jeder Pause heraus, als wär das nur ein Spaß. Wie kannst du so schnell switchen?« Ich verstand es nicht, denn ich bekam den Wunsch nach Rache seit drei Monaten nicht aus dem Kopf.
»Ein Spaß?« Wieder blieb er stehen. Seine Augen brannten. »Ich fühl mich vollkommen leer, darum geb ich den Kasper. Ich lache, um nicht zu schreien, ich ertrag es sonst schon nicht, die Welt ernst zu nehmen. Wenn ich das tu, will ich mir jedes Mal den Kopf wegblasen.«
»Fuck«, sagte ich. Es sollte mitfühlend klingen.
»Das kannst du laut sagen.« Er brüllte über den Brückenrand hinaus: »Fuck!«
Einige Passanten drehten sich um, auch Lena und Selina, die schon ein Stück voraus waren.
»Hey! Wo bleibt ihr?«, rief Selina.
»Wir kommen!« Maik setzte sich wieder in Bewegung.
»Bau bloß keinen Mist mit der Pistole«, sagte ich leise. »Ich will nicht noch einen Freund verlieren.«
»Sind wir denn Freunde?«
»Kann man so was durchziehen, ohne Freunde zu werden?«
Er grinste. »Wohl nicht. Aber wenn du irgendwem von dem Gespräch eben erzählst, ist es vorbei mit der Freundschaft.«
»Was habt ihr gemacht?«, fragte Selina, als wir aufgeschlossen hatten.
»Maik hat überlegt, doch zu springen.« Ich grinste.
»Jan wollte den zwei Frauen auf dem Boot unbedingt auf die Titten glotzen.«
»Du lügst«, protestierte ich.
»Du auch.«
»Ihr geht jetzt einfach mal voraus«, beschloss Selina, und das taten wir.
Maik, der sich vom Urlaub noch an viele Straßen erinnerte, führte uns zur Kathedrale Notre Dame mit den gedrängten flachen Türmen und dem riesigen runden Rosettenfenster. Vor dem Eingang wartete eine lange, schwitzende Touristenschlange; wir stellten uns nicht dazu. Maik machte schnell ein Foto von Christophs Beutel auf einer Bank vor der beeindruckenden Kirchenfront, und dann noch mit ausgestrecktem Arm zwei von uns allen zusammen. Wir drängten unsere Köpfe dicht aneinander, um gemeinsam aufs Bild zu passen, und ich hielt mich an Selina, um Lena nicht zu nah zu kommen.
Maik schoss schnelle Bilder vor einem Palast mit zwei schmutzig graubraunen Rundtürmen, die spitze Dächer hatten, dann auf dem Place Dauphine und vor der gläsernen Pyramide im Innenhof des Louvre. Selina fotografierte einen braunen Coffee-to-go-Becher aus Pappe, der sich in einer Hecke mit roten Blüten verfangen hatte. Sie ließ sich Zeit und drückte mehrmals und aus unterschiedlichen Positionen auf den Auslöser. »Schade. Mit Handyqualität wird das nichts.«
Am frühen Abend kehrten wir auf die Notre-Dame-Insel zurück, die Île de la Cité, und gingen über eine schmale Brücke auf die Nebeninsel. Hinter einer Gasse abseits der Menschenmassen setzten wir uns auf eine Mauer und starrten ins Wasser, der Beutel lag zwischen uns.
»Jan, kaufst du mir ein Eis?«, fragte Lena.
»Nein«, platzte ich heraus, weil das viel zu romantisch klang.
Maik
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