Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
ich hab das Handy vergessen. Was gibt’s?«
»Was ist mit Christophs Grab?«
»Ach ja. Mann, seine Mutter dreht total am Rad.« Er lachte. »Sie behauptet, jemand hat die Blumen umgepflanzt. Ich meine, wer soll das denn merken? Sie hat einen Putzfimmel, und die Gewürze in der Küche stehen alphabetisch, klar, aber das fällt doch nicht auf. Und überhaupt, wer sollte Blumen auf einem Grab umpflanzen? Das wäre doch bescheuert. Sie beschuldigt Selina, weil die eh mit nichts einverstanden war bei der Beerdigung. Sagt, sie wollte ihr ihren Sohn noch nach dem Tod abspenstig machen.«
»Was für ein Bullshit.«
»Sag ich doch. Selma, die direkt neben Selina wohnt, die war auch am Baggersee. Sie hat erzählt, Christophs Mutter ist sogar zu Selina gefahren, aber Selina war nicht daheim, und ihre Mutter wollte nicht damit rausrücken, wo sie ist. Christophs Mutter hat dann geschrien, sie holt die Polizei. Total verrückt.«
»Verrückt«, bestätigte ich. »Und die Mutter wusste wirklich nicht, wo Selina ist?«
»Gar nichts. Sie …« Ralph zögerte. »Warte mal. Was interessiert dich das? Sie ist weg, du bist weg, ihr seid doch nicht zusammen durchgebrannt?«
»Nein.«
»Junge, mach keinen Unsinn«, sagte er. »Sie war mit Christoph zusammen.«
»Ich weiß! Was hab ich gesagt? Also hör mir zu!«
»Schon gut.«
Ich zögerte, und dann ich fragte trotzdem: »Hat er dir gegenüber irgendwann mal erwähnt, dass er sie, na ja, bescheißt?«
»Jan, was interessiert dich Selina?«
»Hörst du mir überhaupt zu? Nichts!« Das Bild der in der Kiesgrube tanzenden Selina tauchte in meinem Kopf auf, aber ich verdrängte es. Selina war nicht mein Problem.
»Ich hör dir zu. Aber du und Selina, das war immer … ich weiß nicht. Irgendwas lag da in der Luft.«
»Sie war Christophs Freundin.«
»Trotzdem. Ich sag ja nicht, dass ihr was miteinander hattet, nur …«
»Wir hatten nichts! Und werden nie, und das weißt du.«
»Ja, klar, sorry.« Er schien überzeugt. »Wenn du also nicht mit ihr durchgebrannt bist, wo steckst du?«
»Erzähl ich, wenn ich zurück bin.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja, klar.«
»Ich mein’s ernst«, betonte er noch mal. »Du steckst sicher nicht in Schwierigkeiten?«
»Nein.«
»Dann hat Knolle recht. Irgendeine Frau, wahrscheinlich verheiratet.«
Ich musste lachen. »Wenn er meint.«
»Ha! Das war kein Nein.« Er triumphierte. »Und darum musst du wissen, ob Christoph fremdgegangen ist?«
»Nicht darum«, sagte ich. »Irgendwer erzählt das herum.«
»Wer?«
»Ich hab’s nur über drei Ecken. Also, weißt du was?«
»Nee. Aber er hat so was doch nie an die große Glocke gehängt?«
»So was?«
»Na, Mädchen und so. Ich wusste nichts von Selina, bis ich die beiden in der Kiesgrube zusammen gesehen habe. Knolle wusste nichts und du auch nicht. Wenn Knolle verliebt ist, wissen wir es alle, ob unglücklich oder nicht, allein vom Desktop-Bild. Weißt du noch, wie wir Jule zum Lachen bringen mussten, damit er heimlich ein Foto schießen konnte? Wieder und wieder und wieder, weil er mit keinem Bild zufrieden war.«
»Und wie er nachts betrunken vor Dianas Fenster auftauchte«, fiel ich ihm ins Wort. »Um diese … diese … Gedichte vorzutragen, und ihr Vater wutschnaubend rausgestürmt ist, was das soll, und Knolle hat ihn gefragt, ob er eine Gitarre hätte, singen wäre vielleicht doch besser.«
Wir lachten.
»Aber Christoph?«, sagte Ralph. »Er hat nie was rausgelassen. Noch weniger als du.«
»Ich?« Ich hatte immer mit Christoph geredet.
»Ja.« Er lachte. »Wo steckst du jetzt? Mit wem?«
»Ich hab doch gesagt, dass …«
»Siehst du?«, unterbrach er mich. »Das meine ich. Du erzählst nicht viel.«
»Ich kann nicht.«
»Du willst nicht.«
»Es geht nicht nur um mich. Ich kann nicht.«
»Wie Knolle sagt: verheiratet.«
»Mir doch egal, was er sagt.«
Er lachte, und wir legten auf.
Ich hatte nie was erzählt, weil Knolle nicht nur sein eigenes Innenleben in die Welt posaunte. Er konnte über seine Fehltritte lachen, und aus Ablehnungen schien er sogar Kraft zu ziehen, um sich ins nächste Chaos zu stürzen. Er begriff nicht, dass nicht jeder sein Inneres offengelegt wissen wollte, dass andere verwundbar waren und von Zurückweisungen gedemütigt wurden. Dass manche Narben schmerzten.
Christoph habe ich vieles erzählt, denn er konnte schweigen. Ralph hatte recht, Christoph hatte nie viel gesprochen. Manchmal hinterher. So wusste ich von einer verflossenen
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